Sie waren recht schnell vorangekommen, bis sie die Grenzen des Königreiches verließen. Dort hatte Amir Shaitan gezügelt und war gemächlicher weitergeritten, um nicht die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich zu ziehen. Almarich ließ die Grenzen viel stärker bewachen als noch bei ihrer Ankunft in Jerusalem, die Kunde, dass Saladin unaufhörlich näherrückte, forderte von dem sonst sehr nicht kriegsgewandten König strategische Taktik.
Erst als die offene, weite Wüste sich vor ihnen erstreckte, konnte Amir den Hengst nicht mehr halten und ließ ihm freien Lauf. Sie flogen über den hell leuchtenden Sand, eine Fata Morgana am Himmel, und erneut konnte der Junge nicht umhin die Ausdauer des Tieres zu bewundern. In einem regelmäßigem, schnellen Pochen, beinahe dem Schlagen des kräftigen Herzens gleich, donnerten die Hufe über den Boden und hinterließen kaum Spuren im Sand, da sie inzwischen nur mehr selten den Boden berührten.
Amirs Geist wurde hinweggetragen von dem Wind und dem Gefühl der streng arbeitenden Muskeln unter ihm, und er ließ ihn schweifen. Bilder alter Tage, der Stationen auf seinem Weg, flogen an ihm vorüber und blieben zurück in der flimmernden Hitze der Sonne. Er fühlte sich nicht länger wie der Junge, der er gewesen war, die leise Stimme in seinem Kopf, die ihm von den Ereignissen erzählte, schien die einer völlig anderen Person zu sein.
Sie blieben nicht stehen, um ein Lager aufzuschlagen, als schließlich die Nacht langsam hereinbrach. Hier in der staubigen Weite kroch sie langsam über den Himmel, den die träge Sonne noch zur Hälfte ausleuchtete und tief unter der gewaltigen Linie, die der Übergang von Tag und Nacht zog, raste Amir auf seinem Hengst halb unter Sternen, halb im Glanz des verschwindenen Tageslichtes dahin.
Der Ritt nach Akkon war mehr als das einfache Aufsuchen einer Stätte der Vergangenheit. Auf seinem Weg ließ Amir Stück für Stück alles fallen, dass ihn noch band, einem Pilger gleich näherte er sich der Stadt, in der alles begonnen hatte. Der Junge wusste, dass es nur noch eine Sache gab, die er tun wollte, bevor er bereit war, sein neues Leben zu beginnen. Klar schwebte ihm sein Ziel vor Augen und eine seltsame Ruhe kehrte in ihm ein, da war kein Drängen, keine Getriebenheit mehr, sie hatte dem stillen Verharren eines Mannes platzgemacht, der auf den richtigen Moment zum Handeln wartete.
Schon auf halben Weg nach Akkon wurde Amir in eine neue Realität gerissen. Als die Straße an den ersten Vordörfern der Stadt langsam wieder breiter wurde und zu einem Hügel anstieg, hielt er Shaitan an und nahm sich einen Augenblick Zeit, zu begreifen, was er sah.
Hunderte Menschen, teils bepackt mit Taschen, manche mit Kindern auf dem Arm, andere auf dem Bock einer klapprigen Kutsche, kamen ihm entgegen. Ihren Gesichtern war allen ein seltsamer Ausdruck gleich. Die Augen blickten leer auf die staubige Straße, in vollkommener Stille wanderten sie dahin, als würden sie schon lange so einherziehen. Der Assassine begriff schnell, dass es keine normalen Reisenden waren, die ihm entgegenströmten. Zu viele von ihnen waren verwundet, am Körper, an der Seele, an den Herzen.
Langsam und beinahe lautlos schritt Shaitan durch die Menge der Flüchtlinge. Sie hatten ihre Heimat nicht aus der Angst vor Saladin, vor den christlichen Herrschern oder einem anderen sichtbaren Feind verlassen, sie waren vielmehr gezeichnet von dem Ungeheuer des Krieges, das sich den Führern so niemals zeigen würde.
Amir hielt den Kopf gesenkt und betete das erste Mal seit langem nicht mehr zum Schein. Er rief stumme Worte in den Himmel, an wen sie sich richteten, vermochte er nicht zu sagen.
Später, als er glaubte, sich in dem Fluß der flüchtenden Menschen zu verlieren, sah er einmal kurz auf. Ein Wagen zog an ihm vorüber, auf dem mehrere Kinder saßen. Die meisten von ihnen blickten starr gerade aus, die Knie umschlungen, die kleinen Hände ineinander verkrampft. Ein Junge jedoch blickte ihn an. Inmitten eines Sees aus Leid und stummer Trauer, inmitten der kalten Schrecken, die sich diesen Menschen ins Herz gebrannt hatten, sah das Kind Amir an und lächelte.
Der Wagen zog vorrüber und lange folgten die Augen des Jungen dem Mönch, der entgegen allem, was er sah, weiter in Richtung Akkon ritt.
"Was ist euer Begehr?" Der Wachmann am Eingang Akkons prüfte misstrauisch erneut den alten Mann, der nun schon eine Weile nachdenklich vor seinen Augen auf und ab schritt. "Wie, was?" verwirrt fuhr der Alte hoch. Schweiß bildete sich auf der Spitze seiner Glatze, ronn langsam daran hinab und traf schließlich auf einen dichten Kranz grauer Haare. Die Kutte des Geistlichen war einfach, an manchen Stellen zerissen, nur das goldene Kreuz, dass an seinem Halse hing, wies ihn als Priester aus. Parcelsus war ein Bettelmönch, er scherte sich nicht darum, wie er aussehen mochte, er hatte keine Zeit dazu, unablässig hatte er Arbeit und dazu zu wenig Material. Aus seinen Gedanken gerissen, sah er den Bewaffneten für einen Moment nicht, schüttelte aber dann den Kopf und kehrte in die Sphären um sich zurück.
"Oh, ja, genau, ich sagte wir brauchen mehr Kräuter und Verbände! Es kommen immer mehr Menschen und ich kann ihnen unmöglich helfen, wenn ich nicht schnellstens die richtige Ausrüstung bekomme!"
Der Wächter blickte verdutzt, wandte sich aber dann an die anderen Männer und fing an laut zu lachen. Sofort stimmten seine Untergebenen mit ein. In seinen Augen glänzte Mordlust, als er zwei der Soldaten zu sich befahl, und dem Mönch mit einer freundschaftlichen Geste einen Arm um die Schultern legte. "Komm mit, Alterchen, da hinten haben wir genau das für dich was du brauchst!"
Parcelsus ahnte langsam, dass er hier in eine unangenehme Situation geriet und versuchte sich hastig dem Griff des Wächters zu entwinden. "Oh, ich glaube ich habe es mir anders überlegt. Wenn ich mich recht entsinne haben wir genügend Kräuter! Und der Verband...nun ja, was soll ich sagen, man muss ja nicht jeden verbinden, hehe, versteht ihr?" gab er nervös von sich. Rauhe Finger packten seinen Nacken und stießen ihn beinah zu Boden. "Vorwärts!"
Immer wieder wurde der Mönch nun voran gestoßen, bis sie eine Ecke weit entfernt vom Hauptweg erreicht hatten. Parcelsus streckte seine Hand aus. "Herr, ihr wollt doch nicht...arggggggggggh!" Blitzschnell hatte der Wächter sie ergriffen und so gedreht, dass Parcelsus auf die Knie gehen musste, wenn er den Schmerz ertragen wollte. Die Spitze eines Schuhs traf ihn im Magen, als er wieder hochgerissen wurde. "Haltet ein, ich habe doch nichts getan!" rief er unter Blut und Tränen, die ihm unablässig in die Augen schossen. Der Wächter zeigte jedoch kein Erbarmen und wollte erneut zuschlagen, fuhr aber herum und ließ Parcelsus fallen, als ein heißeres Röcheln hinter ihm erklang. Einer seiner Männer war zu Boden gesunken, in seiner Kehle steckte ein Messer. Der andere hatte sein Schwert gezogen und griff eine Gestalt an, die sich schnell auf sie zubewegte.
Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Eine weiße Robe flatterte wild um den Angreifer, als sein erster Streich das Schwert des Soldaten traf, doch die Kapuze ließ sein Gesicht in Schatten liegen.
Mit einem gewaltigen Schrei ging der zweite Soldat zu Boden, als der Fremde ihm die Kniescheiben durchtrat. Wie in Trance beobachtete der Hauptmann, wie ein Schwert in die Brust seines Untergebenen gestoßen und mit Hilfe eines Fußtrittes wieder herausgezogen wurde. Erst als sich der Angreifer ihm selbst zuwandte, erwachte er. Sein Schwert fuhr aus der Scheide und er hieb voll Wut auf seinen Gegner ein.
Amir sah die Schneide des Schwertes langsam auf sich zukommen. Wie so oft hatte die Zeit ihre Bedeutung verloren, er musste sich nicht beeilen, den Weg einzuschätzen, den die Waffe nehmen würde. Ein Schritt nach links brachte ihn in die richtige Position und mit der Kraft seiner Wendung stieß er dem Hauptmann ein Messer zwischen die Rippen. Der Wächter schrie grellend und hätte wohl die anderen Soldaten alamiert, doch der Assassine griff nach Kinn und Stirn des Mannes und brach ihm mit einer simplen Bewegung das Genick.
Paracelsus hatte sich in einer Ecke zusammengerollt und blickte nur zögerlich durch seine Finger, als er keine Kampfgeräusche mehr vernahm. Dennoch begann er zu zittern, als er gewahr wurde, dass der Fremde zu ihm getreten war und sich neben ihn in die Hocke gesenkt hatte. So sehr sich der Mönch auch bemühte, er konnte das Gesicht des Angreifers nicht erkennen, seine Stirn lag tief zurückgezogen hinter dem Rand der Kapuze. Eine tiefe Stimme, in der Bestimmtheit und Überzeugung mitschwang, richtete sich an ihn. "Ihr seid beinahe von diesen Männern getötet worden. Ist alles in Ordnung, Bruder?"
Erst jetzt wurde Paracelsus klar, dass der Mann wie ein Mönch aussah, die Kutte etwas verändert zwar und kein Bruder, dem er je begegnet war, trug solche Waffen, aber dennoch erinnerte der Fremde daran. "Ihr..ihr habt mich gerettet! Ich danke euch, mein Freund! Wie kann ich euch je mein Leben bezahlen? Ich bin nur ein armer Mönch, der drüben im Feldlazarett Verwundete pflegt!" Betreten sah er zu Boden. Als Paracelsus seinen Blick wieder hob, war der Assassine verschwunden.
Vor den Toren Akkons waren eilige Lager eingerichtet worden, als die ersten Flüchtlinge die Stadt erreichten, jedoch waren sie schnell an die Grenzen ihrer Kapazität gestoßen. Zwischen den kläglichen Zelten, die nur wenig Schutz vor den Witterungen boten, lagen überall Bahren verstreut, auf denen Verletzte lagen. Hektische Rufe von Gelehrten drangen durch das Gewühl an Schreien, getragen von dem Duft des nahen Todes und der Verwesung derer, die schon gestorben waren.
Kaum jemand hier beachtete Amir, diese Menschen hatten keine Zeit ihn zu fürchten, denn es lag viel schlimmeres hinter ihnen als die einfache Anwesenheit eines Mörders.
Suchend ließ der Assassine seinen Blick schweifen, vielleicht bot ihm sich hier eine Möglichkeit, in die völlig abgesicherte Stadt zu gelangen. Viele der Mönche und Nonnen, der islamischen Gelehrten schienen schon Stunden hier zu arbeiten, ihre Gesichter wirkten grau und eingefallen ungeachtet ihres zumeist noch jungen Alters. Hier, auf diesem Schlachtfeld der Hoffnungslosigkeit, dass die Truppen Saladins lange bevor sie Akkon erreichten voranschickten, versorgten sie die Verletzten Schulter an Schulter und plötzlich schien es, als würde keine Religion, kein Glauben sie mehr trennen, der Grund genug war, einen Krieg zu führen.
Manche von ihnen schienen dem Zusammenbrechen nahe und Amirs Blick haftete an einem Mönch, der sich langsam zu einer größeren Gruppe seiner Brüder schleppte, die sich zum Gehen wandte, als er sie erreichte. Schnell schloss der Assassine zu den Männern auf und folgte ihrer Spur. Die gewaltigen Mauern Akkons stiegen vor ihm auf und warfen ihre Schatten auf seine Gestalt, Amir fühlte, dass er am Ziel angelangt war. In dieser Stadt hatte er gelebt, hier hatte er seine Kindheit verbracht und der vertraute Duft einer salzigen Brise des Meeres, umfing seine Seele. Er senkte seinen Kopf noch tiefer, als die Mönche an den Wachen vorübergingen, hob ihn jedoch sofort, als er auf den Platz hinter dem Tor trat. Die Sonne warf ihre spiegelnden Strahlen von den Zinnen einer riesigen Moschee auf die Menschen vor ihm herab. Amir hätte sich zu Hause fühlen müssen, so oft war er auf diesem Platz gewandelt, doch nur eine leise Ahnung von Erinnerung durchdrang ihn, ein Bild ohne Gefühl.
Akkon war nicht sein zu Hause, das wusste er jetzt. Die Stadt am Meer war lediglich der Ort gewesen, wo er gewartet hatte, bis sein Schicksal ihn schließlich zurück nach Maysaf rief.
Immer auf seine Deckung bedacht, jedoch völlig ungehindert wanderte Amir durch die Straßen, verfolgte seine eigenen Spuren, die schon lange verwischt waren. Beinahe den ganzen Tag verbrachte er damit, bekannte Orte aufzusuchen und die Verbindung zu durchtrennen, die sie zu ihm hatten. Erst als es längst Nacht geworden war, beschloss er zu der Straße zu gehen, in der ihr Haus gestanden hatte.
Amir schloss die Augen, er konnte jeden Zentimeter des Weges unter seinen Füßen spüren, er erkannte die Struktur des Bodens und benötigte keine optische Orientierung. Zerissene Bilder trieben an ihm vorrüber, als er sich langsam jener Stelle näherte, an der Malik ihn damals gefunden hatte.
Teile des alten Hauses schienen den Brand überstanden zu haben, jedoch mehr als ein kleiner Kranz von Grundmauern war es nicht, was er noch vorfand. Nie war an dieser Stelle wieder etwas erbaut worden und Pflanzen rankten sich über die Reste eines gebrochenen Dachstuhles, der langsam zerfiel. Amirs Finger berührten den Baum, über den er Allada in Sicherheit gebracht hatte, folgte dem Verlauf der Rindenspalte. Lange stand er so, völlig unbewegt, im Schatten eines Gebäudes versteckt und schwieg über seine Vergangenheit.
Dann riss er sich los, schickte sich an in die Nacht zu wandern, wurde jedoch von einer Bewegung am Rande seines Sichtfeldes gestoppt. Schnell presste er sich an die Wand eines Gebäudes, huschte daran entlang und verbarg sich in einer Ecke dunkler Schwärze.
Eine Frau war die Straße entlang gewandert. Ihr Kopf war gesenkt, das Haar in einen Schal gebunden, sie trug ihre gefalteten Hände auf einem gewölbten Bauch vor sich her. Amirs Herz machte einen Sprung. Das war SIE, das war Allada! Seine Schwester kam in eben jenem Moment zu diesem Ort, als er sich hier aufhielt. Beinahe wäre er zu ihr gelaufen, hätte sie in seine Arme gerissen und sie gehalten, einfach nur festgehalten, doch etwas hielt ihn im letzten Moment zurück. Vergangene Tage, vergebene Gelegenheiten, Betrug und Verrat kam ihm in den Sinn. Nur eine wage Bewegung träger Luft blieb dort zurück, wo er gewartete hatte, als Amir die Straße verließ und an der Wand eines Schuppens nach oben kletterte.
Allada war es, als hätte sich in den Tiefen der Straße etwas bewegt, aber nur ein Widerschein der Leere, die sie in sich fühlte, traf ihr Auge. Lange hatte sie es vermieden, an diesen Ort zu kommen, hatte Umwege auf sich genommen, damit sie sich nicht erinnern musste. Tastend fuhren ihre Finger über ihren Bauch, in dem Özcans Kind heranwuchs. Dieser Umstand hatte sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und sie musste das endlich alles loswerden.
Seit der Ankunft in Akkon führte sie ein glückliches, behütetes Leben in Özcans Armen, der sie mit Respekt und bedingungslosem Vertrauen behandelte, und doch war sie die Gedanken an ihn nie losgeworden. Wie sehr hatte sie gewünscht, ihr Kind könne ihn kennenlernen, ihn, dessen Namen sie seit Maysaf nicht mehr gesprochen hatte, jedoch tief in ihrem Herzen trug.
Aber das Leben lag zwischen ihnen und Allada hatte aufgehört, auf ihn zu Warten, schließlich hatte sie aufgehört, an ihn zu denken und nun, in der Stille der Nacht begann sie, sich von ihrem Bruder zu verabschieden. Sie konnte sich nicht lange Zeit nehmen, denn ihr Gemahl würde sie erwarten, er hatte immer schon mit Sorge auf ihre nächtlichen Ausflüge gesehen, war aber in ihrem Zustand beinahe nicht dazu zu bringen, sie alleine aus dem Haus gehen zu lassen.
Allada sah den Schatten nicht, der ihr über die Dächer folgte, als sie herumfuhr und mit schnellen Schritten nach Hause eilte.
Wie erleichtert war Özcan, sie zu sehen. Nicht umsonst war er bereit gewesen, so viel für sie aufzugeben, Allada war alles für ihn. Ihre ruhigen Atemzüge, die er vom Bett aus zu sich ans Fenster klingend vernahm, wogen ihn sonst sanft in den Schlaf, aus dem er in ihrer Umarmung erwachen durfte und Özcan wünschte sich, dass es nie enden würde.
Doch heute Nacht konnte er nicht schlafen. Ein Sturm zog vom Meer her auf und stieß wütend grollend dunkle Wolken vor sich her. Die Menschen hatten ihr Hab und Gut in Sicherheit gebracht, nicht selten wehte ein Unwetter wie dieses alles hinfort, dass sich nicht hinter den schützenden Wänden der Häuser befanden. Mit kalten Fingern zerrten die Vorboten des Sturms an dem alten Gebälk und ließ es ergeben ächzen.
Eines hatte Özcan nie ablegen können, obschon seine Ausbildung in Maysaf so lange her war. Er war immer wachsam gewesen, stetig hatte er kontrolliert, ob sie sicher waren, nie jedoch seinem Gefühl vertraut. Aus diesem Grunde stand auch ein Schwert tief versteckt in einem Schrank. Özcan nahm es an sich, als er das Haus verließ, um jene Gestalt zu begrüßen, auf die er stets gewartet und die er nun in den Fetzen fahlen Mondlichtes erkannt hatte.
Der Wind riss heulend an Amirs Gewändern und brachte kalte Luft mit sich, die ihn nur noch klarer werden ließ. Geduldig wartete er auf seinen Gegner, den er längst im hellen Viereck des Fensters erkannt hatte. Er würde es zu Ende bringen, noch diese Nacht, er würde endgültig die Vergangenheit vernichten.
Özcan wählte einen würdigen Weg, ihm gegenüber zu treten. Ungelenker zwar als früher, jedoch immer noch voll Spannung und Genauigkeit, kletterte er an dem Gebäude hoch und zog sich mit einer kraftvollen Bewegung über die Kante des Daches.
Ruhig, die Waffe bereit in seiner Hand liegend, trat er Amir entgegen. Einige Minuten lang starrten die beiden sich über einige Meter Entfernung an. Burschen waren sie gewesen, als sie sich damals gegenüber gestanden waren, junge Männer waren es, was das Leben aus ihnen gemacht hatte. Özcan wusste, dass die Entscheidung dieses Mal wohl nicht so glimpflich für ihn enden würde, wenn es zu einem Kampf kommen musste, dennoch blieb er gefasst, als er zu sprechen begann.
"Ich habe lange auf dich gewartet, Amir!" Sein Gegenüber änderte die Position, so dass er im Licht des Mondes, das unregelmäßig durch die Wolken fiel, das scharf geschnittene Profil des Assassinen erkennen konnte. "Sprich diesen Namen nicht aus. Der Junge, den du kanntest, existiert nicht mehr, Verräter. Ich bin lediglich hier um zu Ende zu bringen, was er begonnen hat!" Amirs Stimme klang wie von weit entfernt. Özcan lächtelte. "Dann hat Al-Mualim an dir endlich vollbracht, was er an deinem Vater nicht geschafft hatte! Es wundert mich, dass ein Mann wie du noch nicht erkannt hast, welche Dinge der große Meister mit dir treibt?" Um schnelle Bewegungen zu vermeiden ließ er sich beinahe wie in Zeitlupe auf den Boden herab und verkreuzte die Beine. Amir blieb weiter über ihm stehen. "Warum sollte ich den Worten eines Lügners glauben? Eines Mannes, der sich im einen Moment in einem Freudenhaus herumtreibt und im anderen meine Schwester entehrt?" "Weil du immer schon nur das sehen wolltest, was den Vordergrund der Tatsachen dartstellt. Ich bin niemals bei einer dieser Huren geblieben Amir, ich habe mit ihnen getrunken, mit ihnen geraucht und gelacht, doch niemals habe ich mich von einer verführen lassen. Du warst, es, der einem liederlichen Weib erlegen ist!" Überrascht bemerkte Özcan, dass sich nicht der Wutausbruch einstellte, den er von Amir erwartet hatte, im Gegenteil. Die Kälte der Luft nahm um einige Grade zu.
"Weil du mich getäuscht hast. Du hast mich mit Wein abgefüllt, meine Sinne vernebelt. Du hast mich dazu gebracht, meine eigenen Gesetze zu missachten!" Amir zog sein Schwert und hielt seinem alten Feind die Spitze als Aufforderung zu kämpfen hin. Özcan bewegte sich nicht. "Und nun treibt dich dein verdammter Stolz dazu, auch jene Gesetze zu brechen, die dir Al-Mualim und dein doppelzüngiger Freund Malik al Sayr auferlegt haben? Willst du einen unschuldigen Töten, weil du deinen Hochmut nicht überwinden kannst?" "Malik hat mich nie belogen, er ist meiner treu!" Seufzend erhob sich Özcan, zog jedoch immer noch nicht seine Waffe.
"Wenn du dir da so sicher bist? Hat er dir eigentlich jemals erzählt, was in der Nacht hier in Akkon passiert ist, als er dich <rettete>? Vermutlich nicht. Nun, Allada ließ mich nicht ruhen, also stellte ich Nachforschungen über die Geschehnisse an und das Ergebnis konnte sie endlich dazu bringen, alles hinter sich zu lassen!" Die Spitze des Schwertes schwebte weiter unbeweglich zwischen ihnen. Eine kleine Bewegung hätte gereicht und Amir hätte sie dem Anderen direkt ins Herz treiben können. Er hielt jedoch ein, hellhörig geworden von diesen Reden.
"Was hast du herausgefunden?" Vorsichtig legte Özcan seine Hand auf die Schneide und drückte die Waffe langsam nach unten. "Wenn du das wissen willst, Amir Ibn La-Ahad, dann setz dich und sprich mit mir, nicht wie mit einem Bruder, aber wie mit dem Vater des Kindes deiner Schwester!" "Ich habe dir gesagt, dass jener, den du kanntest tot ist." antwortete Amir mit einer Grabesstimme. Erneut lächelte Özcan. "Wie dem auch sei, du als Produkt seiner Vergangenheit bist lebendiger denn je!"
Im tiefen Grollen des Sturms, der nun langsam begann, sich über der Stadt zu vergnügen, saßen die beiden Männer sich gegenüber, die Schwerter zwischen sie gelegt. Es war eine Geste des Misstrauens, dennoch wusste Özcan, dass ihm im Moment keine Gefahr drohte. Zu wichtig war für sein Gegenüber, was er zu sagen hatte.
"Als wir Akkon erreichten machte Allada sich sofort auf die Suche nach eurem alten Haus. Ich konnte sie einfach nicht davon abhalten, dort hinzugehen. Wahrscheinlich hast du bereits selbst gesehen, was noch davon übrigblieb. Es hat deine Schwester langsam zermürbt, nicht zu wissen, was mit euren Eltern passiert ist. Also habe ich angefangen Fragen zu stellen, bevor sie es tat. Es war nicht leicht etwas herauszufinden, glaube mir, aber schließlich hat mich eine Kleinigkeit auf den Weg gebracht. Als ihr in Akkon wohnte, da gab es eine alte Dame, die immer bei eurem Großvater zu kaufen pflegte. Sie war eine Bürgerin, recht reich, aber zu wenig, um in den Stand der Adeligen erhoben zu werden..." "Soraya La Hora. Sie war die Frau eines italienischen Kreuzzüglers, aber ziemlich egozentrisch. Verdammt, sie hat sogar ihren Namen geändert, um sich einen besseren Anstrich zu geben. Eigentlich hieß sie Maria."
"Exakt. Diese Dame war es, die mir und deiner Schwester eines Tages auf der Straße begegnete. Sie erkannte Allada und ließ einen Schwall aus Worten auf sie herab, aus denen ich aber entnehmen konnte, dass sie euch als Kinder kannte. Später habe ich sie besucht und in ihr eine redefreudige Verbündete gefunden."
Amir gähnte. "Deine Zeit läuft ab." gab er trocken zum Besten. "Geduld, mein Freund, Geduld." "Ich bin nicht dein Freund, nicht einmal mehr dein Bruder!" Wieder nahmen sie für Sekunden einen stillen Kampf mit den Augen auf, den Özcan verlor. Er blickte zur Seite, betrachtete das in der Ferne liegende Meer, auf dem die Wellen wild mit dem Wind tanzten.
"Vielleicht hast du dich doch nicht ganz geändert....nun gut, lass mich fortfahren. An dem Tag, an dem dein Vater zu euch auf den Markt kam, hatten die La Horas interessanten Besuch. Ein Templer wünschte den eigentlich eher in den unteren Reihen dienenden Soldaten zu sprechen. Als er kam, stellte er jedoch lediglich Soraya Fragen, wie eure Namen wären, wo ihr wohnen würdet, derlei Dinge. Später hat sie ihren Ehemann danach gefragt, was da vor sich ginge, und er antwortete, der Templer sei auf der Suche nach jemanden. Davon ausgehend machte ich viele eurer alten Kunden und Nachbarn ausfindig und auch einige von ihnen hatten mit dem Mann gesprochen. Aus den wirren Fetzen, die ihr Erinnerungen hinterließen, konnte ich langsam ein Bild formen. Und ich weiß, dass es dir nicht gefallen wird!"
Amir nahm sein Schwert mit in die Höhe, als er aufstand und auf Özcan herabsah. "Schwöre mir bei deinem ungeborenen Kind, dass du die Wahrheit sagst oder ich werde dich töten, so wahr ich hier stehe!"
"Ob es stimmt oder nicht, kannst nur du entscheiden. Allada hält es für richtig. Schließlich ist nichts wahr, weißt du? Aber manchen Menschen ist es eben erlaubt zu tun, was tiefe Schande über einen jeden rechtsschaffenden Mann bringt. Dein Vater war nicht hier, um euch aus Mohammads Fängen zu befreien. Er war hier weil er sich versteckt hat. Malik al Sayr und er sind wochenlang schon auf der Flucht gewesen und Cihan wusste wohl, dass er diesmal nicht mehr entkommen würde. Aber er hatte den egoistischen Wunsch euch und eure Mutter zu sehen. Er ritt nach Akkon und führte ihre Mörder direkt zu ihr. Dem Templer muss es ein leichtes gewesen sein, seinen Schüler auf die falsche Fägrte zu locken. Zuverlässige, gut bezahlte Quellen haben das bestätigt. Du glaubst gar nicht, was manche Menschen für ein bischen Geld alles erzählen!" Amir blieb unbewegt. "Warum sollte der Templer das tun? Einen alten Mann, eine Frau, zwei Kinder einfach so zu töten wiederspricht selbst der Religion dieser Hunde!"
"Religion ist es, die Kriege erweckt, also halte nicht zuviel von echtem tiefen Glauben. Ihr wart ein Köder, ein unbedeutendes Opfer für eine große Sache! Sie wussten, dass sie Cihan töten mussten, und sie nutzten die erste Gelegenheit, die sich ihnen nach langer Zeit der Verfolgung endlich bot! Das ist es, was passiert ist, dein Vater ist jedes Risiko eingegangen, ihm war es egal, ob er euch den Tod beschert, er wollte lediglich unbedingt noch einen Blick auf euch werfen, bevor sein eigenes Ableben ihn einholt!"
Özcan holte tief Luft und versuchte, Amir in die Augen zu sehen, doch der Assassine hatte sich von ihm abgewandt. Da stand er, den Körper stolz in den inzwischen beinahe reißenden Sturm gewandt und Özcan schien sein von Schatten gezeichneter Anblick mehr wie der eines Adlers, als der eines Menschen.
"Begehe nicht den selben Fehler wie dein Vater. Lass Allada und das Kind nicht für deinen letzten, selbstsüchtigen Wunsch leiden, den du dir erfüllen willst, bevor du dich aufgibst!" Özcan dachte an seine Frau, den Geruch ihrer Haare, den Glanz ihrer Augen und verabschiedete sich von ihr, da er nicht darauf zu hoffen wagte, dass Amir seinen Stolz wirklich unte Kontrolle bringen hatte können.
"Das Credo der Assassinen fordert vor mir Respekt vor deinem Leben. Wisse, dass der Mensch in mir dich jedoch immer hassen wird!" Amir breitete die Arme aus und stieß sich von der Dachkante ab. Erneut verstärkte sich Özcans Gefühl, keinen Menschen mehr vor sich zu sehen, sondern einen anmutigen, wilden Vogel. Sein Blick traf den Heuwagen, der sich unten an jener Stelle befand, an der der Assassine gestanden hatte, zu spät um zu sehen, wie Amir die Straße verließ.