11. Ein Attentat mit Folgen

"Rede, du Sohn eines Hundes!" Ein weiterer Schlag traf den Wächter ins Gesicht und Blut färbte seine Sicht rot, als die Haut über seinem Auge aufplatzte. So hatte sich Samuel seinen Feierabend nicht vorgestellt. Eben erst hatte er seinen Posten verlassen und war auf der Suche nach einem angenehmen Etablissment, in dem er einige Flaschen Wein und ein gutes Essen finden konnte, durch Jerusalem gewandelt, als zwei Männer ihn von hinten packten und in eine Scheune schliffen. Sofort hatte einer der beiden damit begonnen, ihn zu verprügeln, während der andere an der Türe Ausschau hielt.

Wieder sauste die Faust auf ihn herunter, traf diesmal seinen Magen. Würgend übergab Samuel sich, versuchte zu erkennen, wer ihn da so heftig schlug und riss schließlich schützend die Arme über seinen Kopf, als sein Gegner wieder ausholte. "Ja, ja verdammt, hört auf! Ich werde sprechen, wenn ihr mir endlich sagt, was ihr überhaupt wissen wollt!" Jener der Männer, der an der Tür wache hielt, grinste über beide Ohren. "Da hat er recht mein Freund, bisher hast du ihm noch keine Frage gestellt!"

 

Amir knurrte ein wenig, sah aber ein, dass Malik und der Wächter wahr gesprochen hatten. Er hatte einfach drauf los geschlagen ohne sein Opfer über den Grund zu informieren. "Also," herrschte er den Feigling an, der mit auf sein Gesicht geschlagenen Händen vor ihm am Boden lag, "du gehörst doch zur Wache des Palastes! Dein feiner Befehlshaber, Leruzzi, hat gestern einen Mann festnehmen lassen. Was soll mit ihm geschehen?"

Samuel rappelte sich ein wenig auf und betrachtete die beiden Angreifer. Erst jetzt erkannte er, dass sie weiße Roben trugen, die Kapuzen jedoch nicht über ihre Köpfe gezogen hatten. "Jesus Christus! Assassinen!" entfuhr es ihm, bevor eine weitere Faust in sein Gesicht traf.

"Nein, dein schlimmster Alptraum!" Der Jüngere der beiden zerrte ihn auf die Füße und brachte sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das seine. "Wirst du nun reden oder soll ich weitermachen?" zischte er.

Samuel zitterte am ganzen Leib. Verzweifelt suchte er einen Ausweg aus der Situation, kam aber schließlich zum Schluss, dass er spechen musste, wenn er nicht sein Leben verlieren wollte.

"Schon gut, schon gut! Leruzzi hat den gottlosen Heuchler in das Verließ des Palastes gebracht. Er will ihn morgen Mittag am Platz vor dem Jaffator hängen!" Wie ein Blitz fuhr ein schrecklicher Gedanken durch seinen Kopf. Dies waren berüchtigte Meuchelmörder und sie ließen ihn ihre Gesichter sehen. Samuel schluckte und fügte stotternd hinzu: "I-Ich w-werde diese N-Nacht nicht üb-überleben, oder?"

Ein stechender Schmerz explodierte in seinem Rücken und hüllte sein Bewusstsein augenblicklich in Schwärze. Maliks Dolch schnappte in das versteckte Fach an seinem Arm zurück und hinterließ wieder Leere dort, wo eigentlich sein Ringfinger sein hätte müssen. "Richtig geraten!" raunte der Assassine.

 

Zur selben Zeit erreichte Samut den Stall vor dem Haupttor. Ismael mistete gerade die Boxen aus und verfluchte das schwarze Ross mit der weißen Mähne, dass er nur unter größten Mühen auf die Weide bringen hatte können. Bereits mehrere Bisswunden und Hufabdrücke zierten den Körper des Stallbesitzers und er war fest entschlossen, eine Entschädigung für die Schmerzen und die zerstörte Boxwand zu verlangen. So kam es auch, dass er den jungen Mann in der Mönchsrobe nicht gerade freundlich empfing.

"Sagt eurem verdammten Bruder, dass ich dieses Teufelstier nicht mehr lange dulden werde, wenn er nicht bald mit mehr Talern hier auftaucht!" fauchte er dem Neuankömmling entgegen. Dieser blieb unbeeindruckt. "Eben dies betreffen die Nachrichten, die ich für euch habe! Er hat mir reichlich Bezahlung für euch gegeben. Damit sollten die Kosten, die das Pferd verursacht, ebenso abgedeckt sein wie der Kaufpreis für euer schnellstes Tier!"

Misstrauisch nahm Ismael ein Päckchen entgegen, schnürrte es auf und keuchte verblüfft. "Bei Allah, dafür könnt ihr meinen ganzen Stall kaufen!" Samut wurde ungeduldig. "Ich werde es meinen Bruder wissen lassen! Und jetzt gebt mir endlich ein Pferd!"

 

Staub wirbelte die Straße auf, als Samut Richtung Maysaf jagte. Malik war sich bewusst gewesen, dass seine Nachricht den Meister mit Sicherheit nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, um seine Zustimmung zu ihrem Plan zu bekommen. Aber er wünschte, dass Al-Mualim wenigstens wusste, wen er bestrafen musste, falls die Sache schief ging. Besondere Zeiten erforderten besondere Maßnahmen.

Als Samut Jerusalem schon eine Zeit verlassen hatte und die Wüste sich dunkel und kalt unter dem vollen Mond vor ihm erstreckte, trieb er das Pferd zu rasender Geschwindigkeit an und stellte zufrieden fest, dass das Tier tatsächlich zu den schnellsten gehörte, dass er jemals geritten hatte. Trotz allem würde es eine lange Nacht für ihn werden.

 

"Wir klettern ganz einfach auf die Mauer und schleichen den Zinnen entlang! Das kann doch nicht so schwer sein!" Die Fetzen flogen zwischen Amir und seinem Lehrer. Sie waren in Maliks Haus zurückgekehrt, um ihre Strategie zu entwickeln, allerdings hatten sie bald damit angefangen, sich heftig zu streiten. "Amir, ich habe Respekt vor deinem Können und weiß auch, wozu ich fähig bin, aber so läuft es nicht! Wir können dort nicht einfach ein Massaker veranstalten, wir sind alles in Allem eben einfach nur zu zweit!"

Energisch putzte der Novize sein Schwert, als wolle er die oberste Schichte des Metalles abschaben. Immer diese Bedenken, Malik war etwas zu vernünftig für seinen Geschmack. "Was schlägst du dann vor? Willst du dich als Frau verkleiden und Leruzzi schöne Augen machen?"

Sein Lehrer fuhr herum und entgegnete scharf: "Vergiss nicht, wer vor dir steht! Wenn es dir beliebt, kannst du morgen gerne ohne deine Finger aufwachen!" Kurz herrschte Stille, dann begannen beide laut zu lachen.

Malik hielt sich an Amirs Schulter fest, um nicht zusammenzubrechen. "In Ordnung," japste er, "das war keine wirklich gute Drohung! Aber zurück zum Geschäft. Wir werden das Ganze auf meine Art und Weise erledigen, schnell, vielleicht nicht so spektakulär aber effektiv! Wir mischen uns unter die Menge und warten ab, bis Leruzzi Al Ashab baumeln lässt. Dann sorgst du, so deine Treffsicherheit es will, dafür, dass das Seil reißt und bringst ihn in Sicherheit, während ich den stinkenden Templer erledige. Sollten sie uns nicht fassen, treffen wir uns wieder hier. Einfach, flott und sauber!"

Amir schien endlich zufrieden mit dem Glanz seines Schwertes, erhob sich und vollführte einige Kampfbewegungen damit. "Und das nennst du nicht spektakulär? Du hast eine komische Auffassung von diesem Wort, mein Freund!" Malik löschte die Kerzen und schob aufkommende Bedenken in die hinterste Lade seines Gehirns. "Mag sein. Wir sollten jetzt schlafen."

 

Manchmal, wenn eines zum anderen führt, gibt es Menschen, die den Lauf des Lebens nicht ertragen können. Sie brechen unter der Last dessen, was andere ihnen antun und entscheiden sich für einen Weg, den nur ein wahrhaft Verzweifelter wählen kann, den Pfad des freiwilligen Todes. Der Mond leuchtete weiter ohne nennenswerte Veränderung auf Jerusalem herab, als Johara ihre Arme ausbreitete, sich von einem Turm stürzte, und das ungeborene Leben in sich mit in die Tiefe nahm.

 

Zweifelnd aber ruhig betrachtete Amir Maliks Gebet. Der Lehrer hatte sich gen Mekka gewandt, verbeugte sich unter leisem Murmeln und Amir wurde schon fast von dem Drang befallen, es ihm gleich zu tun, als Malik endlich aufhörte. Er stand auf, klopfte seine Kleidung ab und rollte den Gebetsteppich wieder zusammen.

"Seltsam, irgendwie bist du der Letzte von dem ich solche Religiösität erwarten würde. Immerhin verbietet Allah beinahe jede der Freuden, in denen du so gerne schwelgst!" ließ Amir ihn wissen. "Tja, da kennst du mich schlecht. Weißt du, mein Freund, jeder braucht etwas woran er glauben kann. Für den einen ist es Allah, für den anderen Gott und für manche unter uns nur sich selbst. Ich bin einfach der Meinung, dass wir in der gegenwärtigen Situation jede Unterstützung brauchen können und wüsste ich, dass Allah mir Flügel verleiht, wenn ich dich ihm opfere, ich würde keine Sekunde zögern es zu tun!" Malik ging zu einem kleinen Tisch und betrachtete die Sanduhr. Der Großteil des Inhaltes war bereits auf der unteren Seite angekommen. "Wäre es dann nicht angebracht, auch einige Worte an Christus zu verlieren?"

"Ich glaube kaum, das DER auf unserer Seite ist. Es wird Zeit zu gehen, Amir. Sollten wir nicht mehr gemeinsam zurückkehren, gehe in den Laden. Unter dem Tresen liegt ein Brief für Al-Mualim, indem ich ihn bitte, dich zu initiieren." Stille senkte sich für einige Momente zwischen ihnen. "Und was ist, wenn ICH nicht zurückkehre?" fragte Amir schließlich. "Dann, mein Freund, ist unserem Orden einer seiner Besten verloren gegegangen, bevor er richtig angefangen hat!"

 

Die Menschentraube vor dem Tor des Jaffa war selbst für Jerusalems Verhältnisse beachtlich. Normalerweise riefen öffentliche Exekutionen zwar immer ein gewisses Interesse bei der Bevölkerung hervor, wenn der große Vannino Leruzzi jedoch persönlich eine solche vornahm, kam das Treiben einem Volksfest gleich. Außerdem hatte man viele wunderliche Dinge über die Assassinen gehört und war so gespannt, ob der Gefangene nicht noch für eine Überraschung sorgen würde.

Gaukler, Bürger, Bettler, Geistliche, sie alle vermischten sich zu einer wogenden Menge großer Erwartungen, als Malik und Amir auf dem Platz eintrafen.

Vorerst hielten sie sich im Hintergrund, um in Ruhe die Lage zu erfassen. Malik hatte eine Bank direkt neben einem Minnesänger gewählt, dessen fremde Worte von einer schrecklich schiefen Stimme an ihre Ohren getragen wurde. Amir hatte in Maysaf gerade genügend von fremden Sprachen gelernt um zu wissen, dass er die Heldentaten der Kreuzfahrer äußerst dramatisch besang.

"Dieses Gesindel ist der wahre Tod des heiligen Landes! Nicht einmal die Ratten würden in Jerusalem bleiben, wenn er kreischend durch die Straßen wandert!" raunte Amir seinem Freund zu. Dieser hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass der Junge ein Lächeln nur vermuten konnte. "Du hattest noch nie einen Sinn für Kunst! Hör jetzt auf herum zu albern und sag mir was du siehst!"

Amir setzte sich auf und ließ seinen Blick schweifen. Weiter vorne, einige Reihen von Bürgern entfernt, war ein großes Holzpodest errichtet worden, aus dem sich ein Galgenbaum erstreckte. Das zur Schlinge gebundene Seil bewegte sich leicht in der kühlen Brise. Auf den Zinnen des Tores waren unzählige Wächter zu sehen und auch zwischen dem Podest und der Menschenmenge waren viele von ihnen versammelt. Amir zählte insgesamt 18, die sie und ihr Ziel trennten.

"Ich sehe eine Menge Ärger für uns. Wie willst du durch die Wachen da vorn durchkommen?" "Gar nicht, wenns irgendwie geht. Siehst du das hohe Gebäude da drüben?" "Du meinst das, auf dem die drei Bogenschützen stehen? Ja, seh ich!" Malik schob seine Kopfbedeckung gerade weit genug zurück, dass Amir seine Augen sehen konnte. "Du bist nicht sehr konstruktiv im Moment!"

"Entschuldige. Also, was soll ich tun?" Schweigen senkte sich zwischen sie, als ein Mönch betend vorbeizog. Erst als er sicher außer Hörweite war, antwortete Malik. "Ich denke ich werde mich in die erste Reihe begeben und von vorne angreifen, während du vom Dach aus agierst. Wir müssen das ganze zeitlich gut abstimmen, wenn es gelingen soll. Du gehst da rauf, tötest die Bogenschützen und wirfst ein Messer nach dem Galgen, sobald Al Ashafs Beine den Grund verlieren. In der entstehenden Aufregung springe ich aufs Podest und dann haben wirs geschafft." Amir wurde etwas mulmig bei dem Gedanken, dass er gleich drei Leute unbemerkt ausschalten sollte, bevor es zur eigentlichen Aufgabe ging. "Wieso überlässt du eigentlich ständig mir die ganze Arbeit und streifst den Ruhm dafür ein?" Malik stand auf und schickte sich an, sich auf seine Position zu begeben. "Weil du noch mein Schüler bist und ich die Gelegenheit ausnutzen muss, solange sie sich mir bietet!"

 

Damit verließ er Amir, der seine Aufmerksamkeit längst schon auf etwas anderes gelenkt hatte. Vielleicht war es gar nicht nötig, alle Bogenschützen zu töten. Wenn er sie ein wenig ablenken konnte, würde wohl nur einer von ihnen übrigbleiben, den er wirklich eliminieren musste. Fieberhaft überlegte er, sah sich suchend um und fand schließlich ein vertrautes Gesicht in der Menge. Unweigerlich musste er lächeln. Allah schien Malik erhört zu haben.

Ismael war ebenfalls gekommen, er wollte sich das Spektakel nicht entgehen lassen, schließlich gab es selten solche Abwechslung für ihn. Er hatte sich eine Kiste mitgebracht und stand nun mit gestreckten Zehen auf ihr, um freien Blick auf die Geschehnisse zu haben.

Seine Füße berührten den Boden nicht, als er plötzlich hochgehoben und in eine Ecke getragen wurde. Gerade wollte er beginnen, den Unbekannten zu verwünschen, als der den Besitzer des Teufelspferdes erkannte. "Du bist es also." schnaubte Ismael. "Deine Umgangsformen unterscheiden sich kaum von jenen deines Hengstes!"

"Ja, wir sind uns ein wenig ähnlich!" flüsterte Amir zurück, "Wie geht es ihm?" "Oh, ihm geht es wunderbar! Meine Arme jedoch schmerzen immer noch von seinem letzten Angriff!" Ismael zog die Ärmel hoch und ließ Amir die Bißwunden begutachten. "Das tut mir leid. Er ist wohl etwas böse, dass ich ihn schon so lange nicht mehr besucht habe. Würdest du mir trotzdem einen Gefallen tun? Natürlich sollst du ausreichend entlohnt werden!"

Der Stallbesitzer überlegte nicht lange, war doch sein letztes Geschäft mit den seltsamen Mönchen sehr gewinnbringend gewesen. "Jeden, Herr, den ihr nur wünscht!" vernahm Amir zufrieden. "Sehr gut, mein Freund. Ich möchte das du zu dem großen Haus dort gehst und dann...."

 

"Sieh dir diese ungläubigen Hunde an! Kaum gibt es irgendwo was zu sehen, strömen sie herbei wie die Geier!" Francescos Miene war Ausdruck tiefster Verachtung, während er auf die Menge hinabblickte. Es war sein Wunsch gewesen, bei der Hinrichtung zugegen zu sein, schließlich konnte man sich nicht alle Tage Lorbeeren verdienen, doch die Warterei ging ihm ziemlich auf die Nerven. Schon seit Stunden sicherte er gemeinsam mit seinen Kollegen den Platz von dem Gebäude aus, dass direkt neben dem Podest stand und es hatte zu seinem Bedauern noch keine Möglichkeit gegeben, ein wenig in die Menge zu schießen. Dabei gaben diese Islamisten so schöne Ziele ab.

Francesco verbrachte einige Minuten damit, unsichtbare Pfreile auf einzelne, seiner Meinung nach besonders gottlose Personen abzufeuern und wandte sich dann wieder dem stillen Stehen zu. Wenigstens würde es nicht mehr all zu lange dauern, und der Gefangene würde hängen, worauf der Wächter sich schon die ganze Zeit freute.

Seine Mitstreiter hatten bisher nicht auf seine Ausführungen geantwortet und er setzte zu neuen an, als er von einem aufgeregten Ruf, der aus der Gasse hinter ihnen kam, unterbrochen worde.

"Meine Herren, ja ihr da oben, ihr Wächter, kommt und helft! Gerade sind Assassinen in meinen Stall eingedrungen und haben begonnen, meine Tiere zu töten! Ich konnte gerade noch fliehen!" kreischte ein kleiner, dicklicher Mann mit hochrotem Gesicht zu ihm hinauf.

Francesco zögerte keine Sekunde, befahl einem der anderen mitzukommen, und beeilte sich, dem Fremden zu folgen. Wenn er ein paar dieser Schweinehunde erledigen konnte, würde er seiner Beförderung mit Sicherheit bedeutend schneller näher kommen.

 

Amir wartete in den Schatten, bis Ismael und die Wächter an ihm vorüber waren, trat in die Mitte der Straße und sah an den Wänden empor. Das Dach, auf dem jetzt nur mehr ein Bogenschütze weilte, bot selbst keine Möglichkeit zum Versteck, jenes daneben jedoch war nicht so flach und er würde sich hinter dem First verbergen können. Der Assassine beeilte sich, einige Biegungen hinter sich zu bringen und auf die Rückseite dieses Hauses zu gelangen, wo er direkt aus dem Lauf heraus an die Wand sprang, unglaublich schnell an ihr hinaufkletterte und wieder verschwand. Die wenigen Menschen, die ihn gesehen hatten, staunten, hatten aber nicht genug erkannt, um Alarm zu schlagen.

Jetzt hockte Amir auf rutschigen Schindeln und schätzte die Entfernung zu dem Wächter ab. Für einen gut plazierten Giftpfeil war der Mann zu weit entfernt, es würde ihm also nichts anderes übrigbleiben, als in jenem Moment, indem der andere ihm den Rücken zuwandte, über die Häuserschlucht zu springen und ihn schnell aus der Nähe zu erledigen.

Amir bemühte sich um Geduld, als der Wächter eine erneute Runde begann, und nahm mühelos sofort seine volle Geschwindigkeit auf, als das Sichtfeld des Mannes sich von ihm weg bewegte. Mit einem gestreckten Sprung steuerte er das andere Dach an und merkte fluchend noch in der Luft, dass der Bogenschütze zu ihm herumfuhr.

Ein Messer sauste durch die Luft und bohrte sich direkt in die Kehle des Mannes, der daraufhin zu schreien versuchte, doch die Schneide hatte seine Stimmbänder durchtrennt. Nur ein undeutbares Stöhnen trat aus seinem Mund, als er langsam nach hinten kippte. Sekundenbruchteile bevor er auf den Platz fiel, war Amir neben ihm und zog den Toten zurück in die Mitte des Daches, wo sie unbeobachtet waren. Sein Atem überschlug sich fast. Das war verdammt knapp gewesen.

 

Malik hatte sich indes bis in die erste Reihe der Schaulustigen durchgekämpft und beobachtete, was auf dem Podest vor sich ging. Zufrieden bemerkte er bei einem schnellen Seitenblick, dass er keine Wächter mehr auf dem großen Gebäude erkennen konnte. Amir war also auf seinem Platz und das Spiel konnte beginnen.

Laute Stimmen regten sich hinter ihm, als ein großer Mann in Templerrobe die Bühne betrat, gefolgt von einigen Soldaten, die Turfah Al Ashab zwischen sich schleppten. Der Assassine war bei Bewusstsein, schien jedoch einige Folter erfahren zu haben. Sein Gesicht war übersäht mit Brandwunden, die Malik an die Methoden der Templer erinnerte, die sie zum Verhör anwandten. Er selbst war glücklicherweise nie in den Genuß dieser Behandlung gekommen, hatte aber bereits viele Geschichten darüber von unglücklicheren Brüdern gehört.

Erst als sich das Gemurmel wieder gelegt hatte, betrat Vannino Leruzzi seine Bühne. Hätte Malik nicht sein teigiges Gesicht und die langen dunklen Haare sehen können, die Leruzzi sicht eitel stehen ließ, er hätte ihn an der Art seiner Bewegung sofort erkannt. Der Templer drückte mit jedem Schritt Überlegenheit und Macht aus, so dass man ihn gar nicht ansehen konnte, ohne ihn zu hassen.

Lässig deutete er dem anderen Templer, Al Ashab in Position zu bringen. Dann wandte er sich ans Volk begann mit der einleitenden Rede.

 

"Gott sei mit euch, ihr anständigen Menschen, die ihr heute hier her gekommen seid, um den Tod eines frevelnden Heuchlers zu sehen. Vielen unter euch hat dieser Mann den Vater, den Bruder oder den Geliebten genommen, als er eine Spur der Vernichtung durch Jerusalem zog. Meinem ehrwürdigen Schüler, Robert de Sable," er wies auf den anderen Templer, "ist es jedoch ein leichtes gewesen, seine Spur aufzunehmen und mit seiner Hilfe kann ich diesen gottlosen Bastard heute seiner gerechten Strafe zuführen. Einige haben lange an meinem Vorhaben, den Orden der Assassinen auszulöschen, gezweifelt, doch selbst sie müssen jetzt, im Angesicht der Taten dieses Mannes, sehen, wozu mein Kreuzzug nach Norden in Wahrheit dient: Wir tilgen das Böse vom Antliz der Erde, wenn wir jene vernichten, die Maysaf hervorgebracht hat!"

 

Robert de Sable prüfte sorgfältig den Knoten des Galgens. Er wollte sich keinen Fehler erlauben, der zu Peinlichkeiten geführt hätte. Ihm war der Auftritt vor der Menge alles andere als angenehm, lieber wäre er im Hintergrund geblieben, doch Leruzzi hatte es als eine Ehre für seinen Schüler betrachtet, ihn an dem Erfolg teilhaben zu lassen. Nachdenklich sah er sich auf dem Platze um.

Eigentlich hatten sie noch in der Nacht mit einem Befreiungsversuch der Assassinen gerechnet, es war jedoch ruhig geblieben, zu ruhig, als dass er sich ebenso in Sicherheit wiegen würde wie Leruzzi. De Sable teilte die Ansicht seines Lehrers, dass der Orden ihrer Feinde lediglich aus Feiglingen bestand, bei weitem nicht und entschied sich, besonders wachsam zu sein. Nichts schien ungewöhnlich an der Versammlung, alles Wächter waren auf ihrem Platz. Fast alle...De Sable wurde gewahr, dass die von ihm postierten Bogenschützen nicht dort waren, wo er sie hinbefohlen hatte und ärgerte sich maßlos. Dieser verdammte Francesco hatte sich schon wieder seinen Befehlen widersetzt.

 

Leruzzi war inzwischen fortgefahren. "Doch wie ihr wisst, bin ich ein gütiger Mann, der bereit ist, jedem Menschen eine zweite Chance zu geben!" Grinsend drehte er sich zu Al Ashab um, fasste ihn am Kinn und zwang ihn, in die Menge zu sehen. "Bist du, Ungläubiger, bereit Allah abzuschwören und dein Leben in die Hände des einzigen Gottes zu legen, der wahrlich unsre Erde regiert?"

Al Ashab zielte, spuckte und traf genau. "Du kannst mich mal, du Hurensohn!" warf er Leruzzi entgegen, der das Gesicht verzog und seine Wange mühsam mit einem Taschentuch reinigte, dass sein Schüler ihm geboten hatte. "Dann hänge!" knurrte er zurück.

 

Amir schob sich vorsichtig an den Rand des Daches heran. Verdammt, selbst wenn sie Glück hatten war das Ganze ein Himmelfahrtskommando. Leruzzi hatte nicht umsonst so viele Wachen postieren lassen, er würde auf einen Angriff gefasst sein. Dem Jungen blieb nur zu hoffen, dass ihr Auftreten genug Verwirrung stiften würde, um schnell genug zu entkommen. Andernfalls....

Er schüttelte die Gedanken an einen Fehlschlag ab und widmete sich wieder den Vorgängen unter ihnen. Leruzzi hatte seine Rede beendet und der andere Templer legte Al Ashab den Galgen um den Hals.

Stille senkte sich über den Platz, während Leruzzi ein wenig zur Seite trat, um eine gute Sicht zu haben. De Sable ging hinter den Gefangenen und erwartete den Befehl, die kleine Kiste unter Al Ashabs Füßen wegzutreten.

Amirs Wurfmesser lag schussbereit in der gespannten Hand.

 

"Jetzt!" schrie Vannino Leruzzi und bewirkte damit den Start mehrerer gleichzeitiger Abläufe. De Sable trat nach der Kiste. Ein Ruck ging durch den Gefangenen, er krächzte. Ein Messer flog durch die Luft, zerschnitt das Seil des Galgens und brachte Al Ashab wieder auf die Beine. Malik brach durch die Reihen der Wächter, und riss die Erstauntesten unter ihnen mit sich, als er auf das Podest sprang. Leruzzi wandte sich um, erblickte den Assassinen und erbleichte. Erneut stieß Malik sich von einer Kante ab und schwebte beinahe in der Luft. Die Zeit fror ein, als der Dolch mit einem Knirschen den Platz des Ringfingers einnahm, und sich direkt in Leruzzis Halsschlagader bohrte, der unter einer Fontäne hervorschießenden Blutes und dem Gewicht seines Angreifers sofort zusammenbrach. Ungeachtet der vielen Schreie nahm sich Malik die Zeit, seinem Opfer die Augen zu schließen, während um ihn die Hölle losbrach.

 

Amir landtete mit einer Rolle auf dem Podest und tauchte wenige Sekunden später direkt neben Al Ashab auf. Er zerschnitt dessen Fesseln und half dem anderen Assassinen, aufzustehen. "Wurde aber auch Zeit!" rief dieser ihm durch das Getöse zu, dass inzwischen auf dem Platz entstanden war. "So weit, so gut!" dachte der Junge bei sich und hielt Ausschau nach seinem Freund. Kreischende Menschen liefen wild durcheinander, stießen die Wachen um und begruben sie unter ihren Füßen. Malik hockte am anderen Ende des Podestes über seinem Opfer und ließ gerade seinen Dolch zurückschnappen, als Robert de Sable sein Rückgrat mit einem heftigen Tritt traf.

Amir spannte seine Muskeln und wollte losstarten, wurde jedoch von Al Ashab herumgewirbelt. "Komm schon, Junge, wir müssen hier weg!" schrie er aufgeregt, während der Schüler sich seinem Griff entwandt und auf den Templer zuraste. "Zum Teufel!" fluchte Al Ashab, fuhr herum und begann zu laufen.

De Sable hatte Maliks Arm nach oben gerissen, als der Assassine von der Wucht des Trittes nach vorne geschleudert wurde, und trat jetzt mit eiskalter Miener erneut zu. Sogar über die Distanz, die sie immer noch trennte, konnte Amir das Splittern der Knochen und den heiseren Schrei seines Freundes vernehmen. Er riss sein Schwert aus der Scheide und überwand die fehlenden Meter mit einem Sprung, während De Sable wie ein Besessener auf Maliks Arm eintrat.

 

Ein Stein traf den Templer am Kopf. Ein zweiter folgte und ließ ihn bewusstlos zu Boden gehen. Amir stoppte mitten in der Begegnung und folgte der Flugbahn, sein Atem stockte. Einige Bettler dachten gar nicht daran, mit den anderen Menschen zu fliehen. Sie hatten irgendwoher große Brocken harten Gesteins gezaubert und schossen damit auf die Wachen, die nun auf den sich immer noch am Boden krümmenden Malik und ihn selbst zuliefen. Mehr Zeit als für kurze Verblüffung blieb dem Jungen nicht.

Er erwachte aus seiner Starre, stand augenblicklich neben seinem Freund und zerrte ihn am Kragen der Robe hoch. "Hau ab Amir, verschwinde so lange du es noch kannst!" wimmerte Malik. Er musste unvorstellbare Schmerzen haben. "Das hättest du wohl gerne!" gab sein Schüler zurück. Schnell nahm Amir das Gewicht seines Freundes auf den Rücken und sah sich hektisch um. In diesem Zustand konnte Malik niemals klettern und ihm selber würde es unmöglich sein, ihr beider Gewicht über die Wände zu bringen.

Amirs Blick fiel auf die Bettler, die immer noch unverdrossen die Wachen angriffen, obwohl jene schon einige von ihnen mit Schwerthieben zu Boden geschickt hatten. Ein junger Mann, der weiter hinten stand, winkte ihm mit beiden Armen zu. Der Assassine verschwendete keinen Gedanken darüber, dass er den Bettler noch nie gesehen hatte, schleppte Malik zum Rand des Podestes und sprang.

Die Lücke, die sich in der Reihe der standhaften Männer und Frauen bildete, schloss sich, so wie sie hindurch waren. Jener Mann, der Amir ein Zeichen gegeben hatte, erschien an seiner Seite, zog ihm Malik von den Schultern und bedeutete ihm, den Verletzten auf der anderen Seite zu stützen.

Mehr schlecht als recht rannten sie so los. "Wer bist du?" versuchte Amir sich trotz des Lärmes verständlich zu machen. "Das ist jetzt egal, folgt mir einfach!" gab der andere ebenso laut zurück.

 

Stolpernd schossen sie um eine Ecke und hasteten einer Gasse entlang. Links und rechts von ihnen rannten schreiende Menschen, eine Herde Hühner stob vor ihren Füßen davon. Wie von weiter Ferne konnte Amir das hektische Läuten der Kirchenglocken hören, die die Wächter zum Angriff riefen. Sie waren immer noch nicht weit genug gekommen, um in Sicherheit zu sein, als der Bettler stehenblieb, eine Türe aufstieß und sie in den Raum zerrte. Krachend warf er sie wieder ins Schloss, legte einen Riegel vor und fiel auf den Knien zu Boden. Mit flinken Fingern wurde ein Teppich zur Seite gerollt, unter dem eine Falltür zum Vorschein kam.

Der Fremde riss sie auf und deutete in den kleinen, engen Raum darunter. "Da rein, schnell!"

Amir verbiss sich eine Frage und kletterte eilig hinab, bevor er Malik half ebenfalls in die Tiefe zu steigen. Sie hatten kaum den Grund erreicht und die Köpfe eingezogen, als die Falltür zugeschlagen und von außen verriegelt wurde. "Das darf nicht wahr sein!" entfuhr es Amir.

 

Zähe Stunden verrannen. Anfangs hatte Amir in der völligen Dunkelheit geglaubt verrückt werden zu müssen, da Malik beinahe unablässig unter den starken Schmerzen stöhnte, später war er froh wenigstens die regelmäßigen Atemzüge seines bewusstlos gewordenen Freundes zu vernehmen. Wieder Erwartens hatten sie die Wchen auch nicht gefunden, als sie die Räume des Hauses über ihnen durchsucht hatten. Ihre dumpfen, aufgeregten Stimmen klangen eine Weile lang durch das feste Holz der Falltür. Danach war es still geworden und Amir fragte sich, wie lange sie wohl hier unten ausharren mussten.

 

Die Dunkelheit hatte ihn umfangen und ihn sichtlos gemacht und er musste seine Augen zusammenkneifen, als die Türe ihres Verstecks geöffnet wurde und das Licht einer großen Kerze zu ihnen hinab fiel. Amir hatte ein weiteres Wurfmesser schussbereit gehalten, um dem Mann, der sie einsperrte, gehörig den Leib zu zerfetzen, hielt aber ein, als ein feines, weibliches Gesicht am Rand der Öffnung auftauchte.

Jadwa sah vorsichtig zu ihnen herunter, drehte sich um und deutete einer Person, die Amir nicht sehen konnte, ihr zu helfen.

"Bleibt ruhig, Ibn La Ahad!" flüsterte sie ihm zu, als der Bettler, der ihnen bei der Flucht geholfen hatte, im Sichtfeld erschien und seine Arme streckte, um Malik nach oben zu ziehen. Schnell half Amir ihm und kletterte dann mit eigener Kraft aus dem Loch.

 

Das Zimmer war von flackernden Kerzen gefüllt, die Fenster mit Fetzen verhangen. Jadwa ließ Malik auf ein Lager in einer Ecke bringen und begann mit einer fachlichen Untersuchung seines Zustandes. Ein leiser Schrei entfuhr ihr, als sie die ohnehin schon durchlöcherte Robe Maliks am Arm zerriss und darunter eine fleischige Masse aus gerissenen Sehnen, Blut und Knochensplitter entdeckte.

"Wie kommst du hier her? Und wer zum Teufel ist dieser Mann!" Amir war nicht gewillt, sich länger ruhig zu verhalten. Das Mädchen holte tief Luft und antwortete: "Warum ich hier bin, lasst meine Sorge sein, mein Herr. Horatio ist mein Cousin und vielleicht solltet ihr euch dafür bedanken, dass er euer Leben gerettet hat!" Damit wandte sie sich wieder dem Verletzten zu, nur um einige Sekunden später Befehle auszusprechen. "Horation geh schnell nach draußen und hol ein Beil. Ich fürchte der Arm ist nicht mehr zu retten! Amir, ich brauche Wasser und frische Tücher, du findest sie da hinten!"

 

Starke Hände zogen sie hoch und sie wagte es nicht, die Hand des Assassinen abzuschütteln. "Was hast du vor? Willst du ihm den Arm abschneiden?" Amirs Stimme überschlug sich und Jadwa erkannte, dass er nicht wirklich Herr seiner Sinne war. "Wir müssen es tun, Amir! Oder willst du zusehen, wie er an den Giften seines eigenen Körpers zu Grunde geht?" Einige Sekunden lang flogen Blicke zwischen ihnen hin und her, dann lockerte der Novize seinen Griff. "Gut. Wie willst du es anstellen?" Jadwa atmete erleichtert durch, als der Schmerz an ihren Schultern aufhörte. "Meine Kraft wird nicht reichen, um den Knochen zu durchtrennen. Du wirst es tun müssen!"

Horatio war mit dem Beil zurückgekehrt, hielt jedoch beträchtlichen Abstand zu dem Verletzten. Beim Anblick von Blut wurde dem Hühnen immer gleich schlecht.

 

"Bist du verrückt? Ich kann es nicht!" Amirs Augen flackerten und Jadwa bekam langsam aber sicher Angst, dass er durchdrehen würde. Schnell versetzte sie ihm eine Ohrfeige, trat danach einige Schritte zurück und betete, dass er nicht zurück schlagen würde. Der Assassine bewegte sich nicht, seine Stimme war jedoch bedeutend ruhiger, als er wieder sprach. "Danke. Das war wohl nötig." Wieder Herr seines Denkens geworden, nahm Amir die Hacke an sich und prüfte die Schneide. "Stumpf wie eine Feder!" stellte er unbefriedigt fest.

"Es muss reichen! Schnell, bevor er aufwacht! Bei Sinnen wird er den Schmerz sonst nicht ertragen!" Jadwa war wieder an Maliks Bett und drehte ihn vorsichtig in die richtige Position. Amir trat neben sie, hob das Beil, zögerte, und ließ es wieder sinken. "Bist du dir ganz sicher, dass es richtig ist, was wir tun?" fragte er noch einmal, um sich zu vergewissern. "Mach schon! Du bist sonst auch nicht zimperlich dabei, dass Leben anderer Menschen zu zerstören!"" antwortete Jadwa mit wütendem Gesicht.

Der Assassine überhörte ihre Bemerkung, nahm all seinen Mut zusammen und stieß zu. Ein lautes Knirschen und Bersten begleitete den markerschütternden Schrei seines Freundes, der, geweckt von heißem Schmerz, beim Anblick dessen, was vor sich ging, sofort wieder bewusstlos zusammensank.

Einst hatte Malik Al Sayr der Bruderschaft einen einzigen Finger geopfert. Nun hatte er seinen ganzen Arm verloren.