Der Adler faltete seine Flügel. In der drückenden Hitze der Nachmittagssonne hatte er lange nach einem Platz gesucht, an dem er ungestört verweilen konnte. Hier, hoch über dem lärmenden Pulsieren der Stadt ließ er den Wind durch seine Flügel streifen und blickte auf die Menschen herab, die sich wie Käfer durch den Staub und den Gestank Akkons' schleppten. Der Platz vor dem Turm, auf dem er saß, war überfüllt von ihnen, sie priesen laut rufend ihre Wahren an, folgtem ihrem Tagewerk als würde Akkon nicht unter der Last der heißen Luft flimmern. Erneut breitete der Adler seine Schwingen aus und flog ein wenig tiefer. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Links neben dem Turm, in einem sandigen Beet voll ausgedörrter Sträucher glitzerte etwas hell. Mehrere Jungen standen versammelt um die kleinen Kugeln, die in der Sonne gleißten.
"Also nun, Amir, werdet ihr nicht endlich mit eurem Zug fortfahren?" Hamud Ibn-Rahmud war ein ungeduldiger Junge. Sein Vater hatte ihn von Klein an in dem Wissen erzogen, dass Zeit Geld bedeutete. Und beides hatte er nicht. Umso mehr regte es seinen Unmut, dass Amir nicht auf ihn reagierte und fortfuhr, die kleinen Murmeln im Sand genau zu betrachten. Hamud war nicht geneigt sich Amirs Verhalten länger bieten zu lassen. In diesem Viertel hatte er das sagen, und das würde er sich gewiss nicht von einem hochnäsigen Zehnjährigen nehmen lassen. Erst vor wenigen Tagen hatte der sonst so stille Amir begonnen, mit ihnen zu wetten. Für Hamud schien er ein vollkommener Narr zu sein, ein Kind, dessen Altklugheit beinahe nach Bestrafung schrie. Er hatte sich darauf gefreut Amir im Spiel zu schlagen und allen anderen zu zeigen, dass Amirs überhebliches Gerede nicht mehr war als eine Erinnerung an einzelne Details, die er aus den Gesprächen Erwachsener entnommen hatte. Doch wenn Amir sprach, und das geschah selten, war es als würden nur wohlüberlegte Gedanken seine Lippen verlassen und man konnte nicht umhin ihm zu lauschen. Kein einziges Spiel hatte Hamud bisher gewinnen können, und doch hoffte er, dass Amir auch diesmal gewinnen würde. Er musste sich zurückhalten um nicht laut zu lachen. Diesmal würde Amir nicht einfach so mit dem Gewinn davonkommen. Diesmal nicht.
Amirs' Murmel flog träge durch die Luft, als müsse sie eine Wolke aus Staub durchdringen, prallte gegen Hamuds' Kugel und schleuderte sich aus dem Trichter im Boden. Hamud riskierte ein Lächeln. Nun gut. Amir hatte es nicht anders gewollt. Mit ernster Miene drehte er sich zu dem Jungen um. "Du hast erneut gesiegt, Amir. Nun komm und zeig ob du dir deinen Gewinn auch holen kannst!" Hamuds Faust schnellte nach vorne, fand jedoch keinen Widerstand. Amir war bereits ausgewichen und neben Hamud getreten. Mit der Entschlossenheit eines Kindes trat er zu. Hamud hatte ihn unterschätzt. Amir mochte nicht stark sein, er wusste jedoch um die verwundbaren Stellen eines Gegners. Krächzend raffte Hamud sich auf und sah in die Gesichter der Umstehenden. Mit einer Mischung aus Faszination, Überraschung und nicht zuletzt Schadenfreude betrachteten ihn die versammelten Jungen des Armenviertels. "Holt ihn euch, verdammt noch mal!" zischte Hamud und stemmte sich auf die Beine. Der dreckige kleine Schuft hattre bereits begonnen zu laufen und Hamud wusste, dass er versuchen würde in sein Viertel zurückzukehren. Trotz des stechenden Schmerzes in seinen Nieren lief er los, machte einen Bogen um die Markstände und erklomm eine Leiter auf der anderen Seite des Platzes. Von hier aus konnte er den gesamten Weg bis zum südlichen Tor überblicken. Er sah Amir, wie er versuchte in einer belebten Gasse den Menschen auszuweichen, während ihn die anderen Jungen durch das Viertel jagten. Hamud war zufrieden. Wenn man von der Sache mit dem Tritt absah, verlief alles nach Plan.
Amirs' Herz raste als er sich stetig zur Seite springend einen Weg durch die Menge bahnte. Er hätte ahnen müssen, dass Hamud nicht länger auf seine Spiele einsteigen würde. Der Bettler mochte dumm, aber nicht töricht sein. Lange hatte Amir ihn betrachtet bevor er entschied ihn heraus zu fordern. An jenen heißen Tagen, an denen seine Mutter kranke Bürger pflegte und sein Großvater sich durch eine besondere Menge schlechter Laune auszeichnete, bevorzugte Amir es in den dreckigen Straßen des Armenviertels unterzutauchen. Hier war er nur ein niemand von vielen, hier konnte er es sein. Amir hatte gehofft Zerstreuung in den Spielen zu finden. Es hatte sich...gewöhnlich angefühlt. Gewöhnlicher als der Rest seines Lebens. Jetzt, als er wie ein gehetztes Tier durch die Gassen rannte, wünschte er sich in den Zustand des stillen Verharrens zurück, mit dem er vorher versucht hatte, sich abzulenken. Ja, es wäre besser gewesen, weiter still auf der Bank zu sitzen und den Jungen bei ihren Spielen zuzusehen. Wenn Hamud nicht so schlecht gewesen wäre. Nur wenige Tage hatte Amir gebraucht um seine Schwächen zu studieren und nur wenige Stunden um Hamuds Hass auf sich zu ziehen. Das dies nicht ewig unvergeltet bleiben würde, hatte er gewusst. Ein Schlag riss Amir herum und schleuderte ihn zu Boden. Zwischen den schwarzen Schatten vor seinen Augen konnte er einen der Bettlerjungen erkennen, der ein großes Brett schwang. "Na feiner Herr, eine Tracht Prügel gefällig?" rief er höhnisch und hob seine Waffe. Amir spannte alle Muskeln, stieß sich vom Boden ab und nahm seine Geschwindigkeit wieder auf. Vor seinen Augen tantze der Boden und immer wieder hatte er das Gefühl langsam bewusstlos zu werden, doch er wusste, dass sein Ziel nicht mehr weit entfernt lag. Wenn es ihm gelang durch das Tor zu kommen, war alles in Ordnung. Die Wachen würden die Bettlerjungen aufhalten. Amir stolperte und prallte gegen eine Wand. Erneut raffte er sich auf, schoss um eine Ecke und raste eine weitere schmale Gasse entlang. Gleich war es geschafft, doch kaum hatte Amir diesen Gedanken gefasst, erkannte er die Falle. Die Jungen des Armenviertels hatten sich aufgeteilt und einige von ihnen warteten am Ende der Gasse auf ihm. In einer Wolke aus Staub kam Amir zu stehen. Er brauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, dass auch hinter ihm weitere Gegner warteten. Sie hatten ihn erwischt. Ober ihm erklang ein höhnisches Lachen. Hamud hatte es irgendwie geschafft ihn einzuholen und sah überlegen auf ihn herab. "Ergib dich, Amir. Diemsal bekommst du deine Abreibung!" Wie eine Katze sprang Hamud von dem flachen Dach. Außer ihm zählte Amir sieben Jungen, vier hinter, drei vor ihm. Während Hamud auf ihn zukam wog Amir seine Chancen ab. Es gab keine. Beinahe...
Hamuds Faust traf ihn wie ein Hammerschlag und riß ihn herum. Das Schienbein des Bettlerjungen knallte krachen gegen Amuds Rippen und ließ die Luft daraus entweichen. Der Junge blieb reglos liegen und hoffte, das Hamuds Einbildung groß genug war zu glauben, er hätte ihn bereits besiegt. Wirklich hielt Hamud kurz ein, um zu lachen. "Da seht ihr, ein Schwächling. Ein kleines Kind und ihr lasst euch von ihm zum Narren halten. Er betrügt im Spiel und lügt wenn er den Mund aufmacht. Kommt, zeigen wir ihm was wir von Lügnern halten!" Amir wartete, bis Hamud nahe genug an ihn herangetreten war. Dann schnellte er wie ein Sprinter hoch und rannte auf die drei Jungen vor ihm zu. Ohne zu bremsen rammte er einem von ihnen den Ellbogen ins Gesicht, versuchte nicht das Gleichgewicht zu verlieren und nahm seinen Lauf wieder auf. Wie das Gleiten eines Schattens nahm er eine Bewegung rechts von ihm war. Hamud war dabei ihm den Weg abzuschneiden. In seiner Hand reflektierte ein Messer die Sonne. Mit aller Kraft, die er noch finden konnte, wurde Amir schneller und rannte durch das Tor, wenige Sekunden bevor Hamud von den Wächtern aufgehalten wurde. Eine Frau sprang erschrocken zur Seite, als Amir durch die Menge brach und ließ ihren Wasserkrug dabei fallen. Aufgeregt schickte sie dem rennenden Jungen Schimpfworte hinterher. Erst einige Straßen entfernt wagte Amir stehenzubleiben und zu Boden zu sinken. Er vermochte kaum zu atmen, denn das Stechen in seinen Lungen bahnte sich einen Weg bis in die Kehle und Blut rann seine Schläfe hinab, aber er war entkommen.
Das Haus in der Nähe des großen Marktes schien nur eines von vielen im Bürgerviertel zu sein, doch in Amirs Augen glich es einer Festung. Sein Großvater war ein cholerischer alter Mann, der absolute Disziplin forderte und in seinen Bestrafungen einem rachsüchtigen Herrscher glich. Amir wusste nicht, ob das jemals anders gewesen war. Seit er denken konnte nahm er Mohammad als strengen, unerbittlichen Mann wahr, der es als seine Aufgabe betrachtete ihm und seiner Schwester Erziehung angedeihen zu lassen. Amirs Mutter Leaia war froh über die Hilfe ihres Vaters. Ohne seinen Schutz und sein Geld wäre es ihr unmöglich gewesen, Amir und Allada zu ernähren. Allein die Tatsache, das Mohammad sie wieder in sein Haus aufgenommen hatte, noch dazu mit zwei Kindern, deren Herkunft sie verschwieg, hatte sie alle vor dem Elend gerettet. Amir bewunderte seine Mutter ob ihrer Standhaftigkeit, mit der sie Mohammads Schläge ertrug um ihnen ein besseres Leben zu gewähren. Aber er war verzweifelt gefangen zwischen dem Wunsch, seiner Mutter nicht zu schaden und der Regung, Mohammads Zorn auf sich zu ziehen und ihm so zu wiedersprechen. Leaia hatte schon oft von Amir verlangt ermöge ihr schwören Mohammad nicht zu erzürnen. Doch egal wie sehr Amir sich bemühte, er schien immer das Gegenteil von dem zu wollen, was sein Großvater für ihn vorgesehen hatte.
Mit Wiederwillen betrat Amir das Haus durch den Hintereingang, war erleichtert niemand auf der Treppe zu sehen und beeilte sich, ungesehen in sein Zimmer zu gelangen, als er hinter sich ein Geräusch wahrnahm. Lautlos fluchte er und wand sich um. Mohammad stand am Anfang der Treppe und musterte ihn aufmerksam. "Nun, mein Sohn, ich gedenke mit dir zu sprechen." der Alte wandte sich um und ging in sein Büro. Amir wusste das es unvermeidlich war ihm zu folgen. Er straffte seine Glieder und betrat den Raum hocherhobenen Kopfes, so weit das in seinem Zustand möglich war. Amir kannte die Worte bereits, die Mohammad jetzt sprechen würde. "Mein Junge, wie oft habe ich dich nun schon zu mir gerufen, um meinen väterlichen Rat zu empfangen. Doch mir scheint nichts davon trägt Früchte in dir. Du hast dich geschlagen. Mit wem?" Mohammad bückte sich und sah dem Jungen direkt in die Augen. Amir versuchte dem stechenden Blick standzuhalten, doch schließlich überwältigte ihn seine kindlich Angst und die Ereignisse der letzten Stunden forderten ihre Tribute. "Mit Jungen aus einem anderen Viertel." presste er leise hervor. "Aus welchem?" herrschte Mohammad ihn an. Amir erwog kurz zu lügen, bis sich jedoch auf die Lippe und sagte die Wahrheit. Er konnte nicht sagen warum, doch das teigige Gesicht des dicken, kleinen Mannes vor ihm nötigte Amir zur Wahrheit. "Mit Jungen aus dem Armenviertel." Der Blick seines Großvaters nahm an Härte zu, als diese sich aufrichtete. Sein Gesicht war rot unterlaufen, als er die Arme verschränkte und sich von Amir abwandte. "Mit Bettlern." flüsterte Mohammad. "Mit Bettlern?" schrie er so plötzlich, dass Amir nicht umhin konnte zu erschrecken. "Warum zum Henker prügelst du dich Bettlern? Amir, du bist nicht irgendjemand, du bist MEIN Enkelsohn. Du sollst einmal der bedeutenste Händler dieser Stadt werden! Was denkst du werden die Leute eines Tages von mir sagen? Dass ich einen törichten Taugenichts erzogen habe, der sich mit Bettlern schlägt?" Mohammad stampfte im Zimmer auf und ab, während Amir sich nicht von der Stelle rührte. "Antworte mir, was habe ich dich gelehrt?" fragte der Alte keuchend und mit beinahe überquellenden Augen. Amir konnte seinen Atem wahrnehmen, obwohl Mohammad einige Armlängen entfernt verharrte. Er roch nach Wein. Nach zu viel Wein. Leise gab der Junge die so oft gehörten Phrasen von sich. "Disziplin. Ordnung. Ansehen. Die drei Grundpfeiler deines Erfolges." Amir wagte es nicht seinen Großvater anzusehen, der die Lippen zu einem gequälten Grinsen verzog. "Falsch, Amir." bemerkte Mohammad trocken, ging zu einem Schrank und zog einen Kamelstock hervor. "Die drei Grundpfeiler JEDES Erfolges. Und das wirst du mir nun so lange sagen, bis ich die Worte glaube, die aus deinem Mund kommen." Amir schloss die Augen als Mohammad stark ausholte und wünschte sich wieder gewöhnlich zu sein.
Träges Kerzenlicht flatterte über die Wände und ließ springende Schatten entstehen. Amirs Körper foderte seinen Tribut. Es gab nicht einen Muskel, den er nicht spüren konnte. Seufzend setzte er sich auf und betrachtete seine Arbeit. Muhammad hatte ihm zur Strafe aufgetragen den Ziegenstall mit der Bürste zu reinigen und erst schlafen zu gehen wenn auch das letzte bischen Dreck unter dem Heu verschwunden war. Schläge waren für den alten keine Strafe. Sie waren ein Mittel den Jungen zum Zuhören zu bewegen. Amir wusste, dass sein Großvater ihn prüfen würde und so fehlte ihm der Mut einige besonders schlimme Stellen einfach zu verdecken. Er gönnte sich eine kliene Pause und betrachtete die Blasen an seinen Fingern. Wenigstens waren die Ziegen nicht im Stall. Der Versuch die Glieder zu strecken schlug fehl, der stechende Schmerz in ihnen brachte Amir wieder auf seine Hände und er beschloss einfach weiterzumachen, bis er von alleine umfiel. Lange konnte es nicht mehr dauern. Zu müde um zu reagieren führte er auch weiter stur seine Arbeit aus, als sich die Stalltür einen Spalt öffnete und ein Mädchen ins Lich huschte. Allada war zerzaust, sie hatte ihr Kopftucht nicht aufgesetzt, als sie aus dem Bett stieg um ihren Bruder zu suchen. Sie wirkte müde und besorgt, ein Ausdruck den er nur zu oft bei ihr wahrnahm. Kleine Mädchen sollten nicht so aussehen. Leise kam sie näher und hockte sich neben Amir, der immer noch mit beständigen Kreisen den Dreck entfernte, auf den Boden. "Hier bist du also." sagte sie einfach und mit Müdigkeit in der Stimme. "Wann kommst du schlafen?" Amir brauchte einige Minuten, um sich auf Allada zu konzentrieren und mit dem Putzen aufzuhören. "Gar nicht schätze ich. Ich werde einfach umfallen und leise sterben." Die Bürste entsank seinen Händen, er war unfähig erneut danach zu greifen. Mit Sorge in den Augen betrachtete Allada ihren Bruder. Amir mochte Dinge tun, die die Mutter und den Großvater wie Ungehorsam vorkamen. Doch sie wusste, dass mehr hinter seinem seltsamen Verhalten steckte. Amir erschien ihr oft wie ein Singvogel, eingesperrt in einem Käfig. Er zog sich in Stille zurück, sobald er im Haus war, in der Stadt jedoch änderte er sich vollkommen. Dort schien er ihr wie ein Adler auf der Jagd, auch wenn seine "Beute" meistens Ärger war. Früher hatten sie gemeinsam die Straßen des Bürgerviertels erkundet, doch inzwischen zog Amir nur noch alleine los und verschwand in den Tiefen der Stadt. Er ging nicht länger offen durch die Straßen, lief nicht mehr mit ihr um die Wette und ließ keine Drachen mehr vor den Toren steigen. Amir beschränkter sich seit einiger Zeit darauf, unsichtbar zu sein. Selbst ihr kam er manchmal seltsam transparent vor, so als würde er die Hälfte der Zeit in seinem Geiste weilen und die andere in Schwierigkeiten geraten. Vorsichtig ließ sich Allada hinter ihrem Bruder nieder und massierte ihm den Nacken. "Ich werde dir helfen. Gemeinsam sind wir bald fertig." Amir war seinem Gott nicht für viel dankbar. All sein Dank richtete sich darauf, dass er ihm Allada zur Schwester gegeben hatte. Nur wenige Momente jünger als er, schien sie ebenso einen für ihr Alter beeindruckenden Intellekt zu besitzen. Während andere Mädchen von zehn Jahren mit Puppen spielten oder sich mit albernem Geplapper die Zeit vertrieben, verbrachte Allada ihre Zeit in der Küche bei der Großmutter oder im Hospital bei Leiala und den Mönchen. Sie wusste welche Kräuter am Besten zu Braten gereicht wurden und mit dem Saft welcher Pflanze sie Wundbrand stillen konnte. Mit diesem Wissen betrachtete sie Amir und kam zu dem Schluss, dass er dringend Ruhe benötigte. Flinke Finger griffen zur Bürste und setzten die mühevolle Arbeit fort. Amir lehnte sich gegen eine Wand und versuchte seinen Kopf in eine bequeme Position zu bringen. Einige Zeit beobachtete er seine Schwester still, bevor er langsam in die Stille sprach. "Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, Allada. So kann es nicht bleiben." Das Mädchen versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatte schon lange auf diese Worte gewartet. Amirs Verhalten konnte nur einem solchen Gedanken entspringen. "Wir können nichts tun. Wir sind noch zu jung, Amir. Mutter ist besorgt. Sie weint oft um dich." Amir kniff die Augen zusammen, als wäre er an einen verborgenen Schmerz erinnert worden. Er war froh das Allada es nicht sehen konnte. "Sie sollte unbesorgt sein. Ich weiß was ich tue." "Auch heute vor der Karalen-Kirche? Hamud hätte dich umbringen können. Er mag erst fünfzehn sein, aber sein Ruf eilt ihm vorraus." Die folgenden Minuten bestanden aus Stille und dem Geräusch von Borsten, die über den Boden gerieben wurden. "Ich möchte nicht, dass du mir folgst." brachte Amir schließlich hervor. Adalla erhob sich und sah ihrem Bruder in die Augen. "Das bin ich auch nicht. Es wäre nicht möglich, so wie du verschwindest. Ich habe es erfahren. Amir, du begiebst dich auf keinen guten Pfad. Ich spüre deine Angst und auch ich weiß oft nicht mehr weiter, aber wir müssen warten. Warten bis wir alt genug sind hier wegzugehen." In Adallas Blick lag etwas tröstliches, etwas, dass ihm sagte es würde alles gut werden, wenn er nur nach ihrer ausgestreckten Hand griff. Beinahe mühelos zog sie ihn auf, als Amir seine Finger um die ihren schloss. "Komm jetzt. Du musst schlafen."
Gleißendes Licht, eine Bewegung, ein Flügelschlag. Rauschender Wind, plötzlich, eine Gestalt, lichtdurchdrungen. Ein schrecklicher Schrei...Stille.
Amir blinzelte und versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Die Schmerzen trafen ihn mit der Wucht kalten Wassers und er hustete als er versuchte sich aufzurichten. Hamud, die Flucht, Mohammad. Erinnerungssplitter zuckten durch seinen Kopf und hinterließen pochende Schmerzen. Eine Gestalt. Der Adler. Amir gelang es aufzu stehen und zum Fenster zu wanken. Er riss es auf und ließ das strömende Treiben Akkons ein. Eigenartige Gerüche, das Rufen eines Händlers...langsam gewann die Umgebung an Realität zurück. Stimmen drangen in das Zimmer und erfüllten es mit Leben und die Sonne hatte sich bereits auf ihren Weg am Horizont begeben. Amir stöhnte leise und presste die Finger gegen seine Schläfen. Mit ihm war etwas nicht in Ordnung. Immer wieder dieser Traum. Immer wieder diese Stimme. Langsam ließ er sich auf dem Bett nieder. Es würde schon spät sein und gewiss hatte Mohammad bereits mit seinen Arbeiten begonnen. Trotz der Schmerzen musste Amir sich beeilen, um nicht allzu spät zu kommen. Er quälte sich in seine Kleider und versuchte, nicht allzu sehr zu hinken, als er sich auf den Weg zum Marktplatz machte. Akkon war bereits erwacht, als er aus dem Haus trat. Frauen mit Krügen, Männer und Kinder mit Kisten, Hunde, Blinde, Geistliche, sie alle belebten die Straße und ließen unter der jetzt schon unglaublichen Hitze der Sonne ein Biotop an Bewegung entstehen. Amirs Weg führte ihn entlang der Gasse, in der die Händler ihre Lager besaßen. Als er an jenem seines Großvaters vorbeikam, grüßten ihn die Arbeiter freundlich, fragten wie es ihm erginge. Amir antwortete knapp und beeilte sich sie wieder zu verlassen. Heuchelei konnte er riechen und diese Kerle stanken danach. Sein Großvater hatte sich ein kleines Imperium aufgebaut. Er handelte mit den fahrenden Völkern, mit Nomaden und den Händlern der Kreuzfahrer und konnte so jede erdenklich Art von Waren anbieten. Was an Geld beiseite gelegt werden konnte, hütete der Alte mit Argwohn. Amir und seiner Familie fehlte es nie am Nötigsten, doch mehr als dieses Mindestmaß um zu leben war Luxus in Mohammads Augen. Er selbst als Geschäftsmann, wie er sich bezeichnete, hüllte sich in feine Gewänder. Amirs Familie bekam solche nur zu sehen, wenn sie Arbeiten für Mohammad verrichteten. Amir erreichte den Marktplatz und hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, möglichst unbemerkt hinter den Tresen ihres Standes zu schlüpfen. Mohammad hatte heute bereits früh aufgeschlagen und prieß seine Waren an. Nie hätte er Geld für Angestellte ausgegeben. Er betrieb seinen Handel selbst und sah Amir und seine Schwester als billige Arbeitskräfte an. "Was ich an euch spare wird eines Tages auch euer sein!" beliebte er zu sagen, wenn Amir nach Hilfe verlangte. Langsam ging er näher und achtete dabei darauf, dass immer Menschen zwischen ihm und seinem Großvater die Sicht versperrten. Allada ordnete die Gewürze und gab sie in kleine Säckchen, als sie Amir bemerkte. Schnell legte sie ihre Arbeit beiseite, trat hinter dem Stand hervor und zog Amir um eine Ecke. Ihr Kopf war wieder in ein blaues Tuch gehüllt und ihre braunen Augen glänzten verschwörerisch, als sie sprach. "Ich habe ihm gesagt du würdest die Lieferung beim Bauern holen. Sie steht dort hinten im Schuppen. Beeil dich, er ist schon misstrauisch." Ihre Hand berührte Amirs Schläfe, dann verschwand sie genauso flink wie sie gekommen war, wieder hinter dem Stand, gerade rechtzeitig um Mohammads Befehl dem Kunden die Teppiche zu zeigen, zu empfangen. Gedankenverloren sah Amir ihr nach. Kein Zeichen von Müdigkeit lag auf ihren Zügen, sie lächelte und wirkte dabei so viel älter, erwachsener, als er sich selbst fühlte. Sie war einzigartig. Der Junge ging zum Schuppen, sah die Kisten und war erstaunt. Wie hatte Allada sie hier her gebracht? Ihr Geschick immer wieder Täuschmanöver durchzuführen, um ihn vor Mohammad zu schützen, war sagenhaft. Sie besaß ein Netzwerk aus Mädchen, Mönchen und Kunden, die sie mit scheinbar unsinnigen Halbwahrheiten über die Vorgänge in der Stadt versorgten, doch Adalla zog immer die richtigen Schlüsse. Amir hob die Kisten an und ächzte. Sein Rücken fühlte sich an, als hätte der Kamelstab Furchen in ihn gegraben. Es würde ein anstrengender Tag werden.
"Ah, Herr, ich sehe, ich habe genau was ihr braucht! Einen Teppich für die Dame? Ein paar Gewüze fürs erlesene Mahl? Feinstes Linnen aus Damaskus? Sagt mir, was ist euer Begehr?" Mohammad verging in seiner Rolle als heuchelnder Verkäufer. Seine Freundlichkeit wirkte keinen Moment aufgesetzt, nur Allada und Amir wussten, dass dies eine Maske war, hinter der sich Profitgier und Härte verbargen. Sein schütteres Haar gläntzte mit den Amuletten an seiner Brust um die Wette und schien die Leute zu blenden. Nur so konnte sich Amir erklären, dass sie Mohammad beinahe alles glaubten. Die Bürger waren beeindruckt und kauften. Amir hatte Zeit gefunden, sich im Schatten eines Fasses niederzu lassen und das Treiben zu beobachten, während er sein Mittagessen zu sich nahm. Mohammad mochte hart sein, aber hungern ließ er sie nicht. Er gab viel darauf wie der rettende Großvater zu wirken, wenn seine Kunden ihn sehen konnten. Und er verlangte von ihnen, dankbare Enkel zu sein. Amir hatte oft versucht, dem gerecht zu werden. Früher, hatte er geglaubt, sein Großvater wäre gütig in seinem Herzen, weil er die kleine Familie wieder aufnahm. Erst als er began eigene Wege zu gehen fiel ihm auf, dass er den Sold, den Mohammad verlangte, nicht erfüllen konnte. Er konnte einem Menschen, der ihn so demütigte nicht achten. Auch nicht zum Schein. Allada beherrschte dies perfekt. Mit einem sonnigen Lächeln im Gesicht umarmte sie Mohammad und bat ihn um eine Pause für Amir und siehe da, der Alte gewährte es und strich der Kleinen über die Haare, während er einer Kundin die rührselige Geschichte seiner armen Enkel erzählte. Manchmal erschien es Amir, als hätte Allada einen Weg gefunden, Mohammad zu kontrollieren. Jedoch nur solange, bis er ihr Weinen aus dem Büro des Alten hörte. Wie um den Gedanken zu verjagen schüttelte der Junge den Kopf und nahm die Betrachtung der Umgebung wieder auf. Der Platz war gefüllt mit Menschen, Bettlern, Wachen, Frauen, Kindern und Mönchen. Diese gingen still betend ihrer Wege. Nur einer von ihnen hatte sich träge aus der Gruppe gelöst und auf einer Bank Platz genommen. Amirs Augen strichen über ihn hinweg und glitten weiter, über die anderen Stände und einen Hund, der winselnd versuchte etwas Fleisch zu bekommen. Die Umgebung verschwamm und der Junge konnte jedes Detail des Tieres sehen. Angestrengt blickte es den Koch an, der Fladen an einem Stand anbot und schien zu überlegen, wie esseine Aufmerksamkeit erregen konnte. Amir hatte das Gefühl als würde die Zeit langsamer verlaufen, als der Hund den Kopf wand, ihn ansah und die Zähne bleckte.Umso mehr erschrack er, als der Mönch in einer plötzlichen Bewegung neben ihm auftauchte. "Wohlan, mein Junge, kann ich bei dir kaufen?" Amir hob den Kopf und versuchte das Gesicht des Mannes zu sehen, doch die Kapuze des Geistlichen ließ Schatten auf seinem Gesicht liegen. "Sonderbar", dachte er. Die Präsenz des Mannes fühlte sich vertraut an, wie ein Geschmack der an einen längst vergangenen Moment erinnert. "Natürlich, mein Herr." hörte Amir sich überrascht sagen, während er aufstand. "So gebt mir weißes Linen. Habt ihr auch Heilpflanzen in eurem Vorrat?" Amirs Blick wanderte über die kleinen Töpfe am Tisch, während sein Gehirn hektisch nach der Erinnerung kramte. "Alle die ihr zu haben wünscht." "So gebt mir von den Kornfeldblumen." Mohammad wandte sich aufmerksam um, als er der ungeschickten Bemühungen Amirs gewahr wurde. "Was machst du...oh, verzeiht Herr, ich habe euch gar nicht gesehen." "Euer Gehilfe hat mich bereits empfangen, so musste ich nicht warten." entgegnete der Mönch mit einer festen Stimme. In Amirs Ohren fing es an zu klingeln und für einen Moment glitt sein Blick wieder in das gleißende Licht seines Traumes. Er hatte das Gefühl hineingesogen zu werden und schnappte nach Luft. "Ist alles in Ordnung mit dir, mein Junge?" knurrte Mohammad, als Amir nach der Kante des Tisches greifen musste, um nicht zu stürzen. Amir konnte sich kaum auf die Worte des Alten konzentrieren. Die Stimme. Es war die Stimme. "Junge?!" Mohammad packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Amir erwachte aus seiner Starre. "Gewiss, Großvater. Mein Schlaf war nur schlecht diese Nacht." Mohammad hätte sich nicht zufriedengegeben, wäre nicht ein Kunde anwesend gewesen. Schwäche konnte er nicht ausstehen. Sie war ein Mangel an Disziplin. Er brummte und wandte sich an den Mönch. "So womit können wir dienen Herr?" Erwartungsvoll musterte er den Mann. Diese verdammten Prediger horteten ihr Geld wie Aasgeier aber wenn sie es ausgaben, dann reichlich. Mohammad roch ein gutes Geschäft. "Ich möchte euch nicht von eurem Werke abhalten. Seit gewiss, dass ich viele Dinge brauche. Überlasst mich nur eurem Enkel, er scheint mit ein ausgezeichneter Lehrling zu sein. Ich bin sicher ihr werdet mit unserem Handel zufrieden sein." Die Stimme des Mönches hatte sich kaum verändert und doch hatte Mohammad bemerkt, dass es keine Bitte war, die der Mann an ihn gerichtet hatte. Verwundert über sich selbst zuckte er mit den Schulter. "Meinetwegen. Junge! Gib ihm alles was er braucht!". Damit wand Mohammad sich wieder seinen anderen Kunden zu. Ein unangenehmes Gefühl blieb in ihm zurück. Amir hatte sich erholt und beeilte sich nun, der komischen Gestalt alles recht zu machen. Der Mönch erzeugte eine Gefühl in ihm, dass er nicht zu beschreiben mochte. Es war als würde er seine Stimme kennen, aber doch nicht sein Gesicht. Als wüsste er seine Gedanken, aber doch nicht seinen Namen. Amir hoffte, dass jener Zustand nichts mit der Wunde zu tun hatte, die das Brett gestern auf seinem Kopf hinterlassen hatte. "Wie ist dein Name, Junge?" "Amir." "Amir," wiederholte der Mönch, "das bedeutet <der Prinz>, nicht war? Und deine Schwester? Wie heißt sie?" Dies ließ den Jungen in seiner Verwirrung aufhorchen. Das Denken übernahm Misstrauen regte sich in Amir. "Woher wisst ihr, dass die meine Schwester ist?" Er hatte eingehalten und betrachtete die Gestalt vor sich. Amir schien es, als würde er den Mann lächeln hören, als er erwiderte: "Du bist ein schlauer Kerl, Amir. Wachsamkeit ist eine Wichtige Tugend. Nun ich vermutete es, die Ähnlichkeit zwischen euch ist klar zu sehen." Still schimpfte Amir sich einen Narren. Natürlich. Er und Allada waren in der selben Nacht geboren und sie glichen sich äußerlich so sehr, wie sie sich innerlich unterschieden. Der Schlag auf seinen Kopf war wohl doch heftig genug gewesen. "Ihr Name ist Allada. So, hier sind eure Waren." beeilte er sich zu sagen. Langsam wurde ihm die Situation unheimlich. "Danke, Junge." Der Mönch öffnete seine Hand und ließ ein paar Münzen auf den Tisch fallen. "Behaltet den Rest für euch, Amir. Und seit wachsam. Es sind heiße Nächte." Mit diesen Worten wandte sich der Mönch und verschwand. Zurück blieb ein verwirrter Amir inmitten seiner kreisenden Gedanken.
Leiala schloss leise die Tür zu dem Zimmer ihrer Kinder und ging in die Küche. Die Arbeit im Hospital war schwer, und Leiala war zu müde, um sich Sorgen zu machen. Allada hatte ihr versichtert, dass sie die Wude an Amirs Kopf versorgt hatte und er in Ordnung sei, doch Leiala war sich darüber im Klaren, dass gar nichts stimmte. Amir war nicht gewöhnlich. Amir war wie sein Vater. Zittern regte sich in ihren Händen, wenn sie an ihn dachte. Seine glühenden Augen, sein scharfer Verstand. Seine Berufung. Leiala hatte nie viel auf Religion gegeben. Sicher, sie lernte die christlichen Schriften und lebte nach ihren Geboten, auch ihre Kinder erzog sie in ihrem Sinne. Doch der Fanatismus Vieler, der sie zu Taten zwang, die Leiala nicht verstehen konnte, lehrte sie vorsichtig zu sein. Amirs Vater war fanatisch. Fanatisch genug um gefährlich zu sein. Zu gefährlich...
Leiala war es nicht leichtgefallen, ihn zu verlassen. Eine Frau alleine mit zwei Kindern kam dem Selbstmord gleich. Doch hatte sie dem Allen nicht länger standgehalten, den Lügen, den Reden, den blutigen Flecken in seinem Gewand. Nie hatte sie erfahren, was er wirklich tat wenn er sich auf Reisen begab um "Verträge" abzuschließen. Nie hatte sie gefragt. Irgendwann war sie gegangen. Er hatte nicht nach ihr gesucht. Leiala nahm das als Einverständnis. Schon bei der heimlichen Vermählung hatte er ihr gesagt, dass er ihr manche Dinge niemals erklären würde und sie hatte zugestimmt. Die Last der Jahre hatte diese Zustimmung bröckeln lassen. Leiala war angesichts ihrer schnell heranwachsenden Kinder nicht länger gewillt, jeden Morgen neben jemandem aufzuwachen, von dem sie vermutete, dass er ein Mörder war. Doch manchmal, wenn sie Amir ansah, konnte sie seinen Vater in ihm sehen. So klein der Junge auch noch war, sein auftreten war zu ähnlich dem des Mannes, den sie geliebt hatte. Leiala fürchtete Amirs Jugend. Er war jetzt schon kaum zu kontrollieren und ihr Vater sah es nicht mit Wohlwollen, dass sie den Jungen so nachlässig behandelte. Sie erlaubte ihm die Streifzüge in stillem Einverständnis, in dem sie niemals schalt sondern nur besorgt seinen Kopf streichelte, wenn er zurückkehrte. Auch Allada war ungewöhnlich schlau für ihr Alter, doch sie hatte gelernt sich anzupassen. Unermüdlich half sie ihrer Mutter bei der Pflege der Kranken, wenn es die Arbeiten des Großvaters zuließen. Leiala schien als würden die beiden niemals ruhen, Allada in dem Bemühen, jedem hilfreich zur Hand zu gehen und Amir in einer für sie rätselhaften Getriebenheit, die ihn Nachts aufschreckte.
Mohammad war schon lange zu Bett gegangen und hatte nur Unrat und Verwüstung hinterlassen. Drei leere und eine halbvolle Flasche Wein lagen auf dem Boden, der Stuhl umgeworfen, der Tisch an die Wand gerückt. Leiala seufzte. Sie hoffte das Allada recht behielt. Morgen war ein anderer Tag. Leise begann sie aufzuräumen und achtete nicht auf die Geräusche auf der Straße.
Adallas Atem drang als gleichmäßiges Geräusch bis zu Amir vor. Er war froh das seine Schwester schon schlief, er wäre nicht fähig gewesen, eines ihrer allabendlichen Gespräche zu führen. Immer noch geisterten die Worte des Mönches durch seinen Geist. Wachsamkeit war wichtig. Wachsamkeit bewahrte vor Katastrophen. Diese Stimme...es war als ob sie aus seinem innersten in sein Ohr drang, so als hätte der Mann die Lippen nicht bewegt, als hätte Amir ihn tief in sich gehört. Manch anderer zehnjähriger hätte die Begegnung mit einem Gruseln zu vergessen gesucht, doch Armirs Verstand ließ es nicht zu. Seine kindlichen Empfindungen standen einer rationalen Sicht der Dinge gegenüber und er vermochte sehr wohl, seine Gefühle von der Logik der Situation zu trennen. Was Amir nicht konnte war die Unruhe zu erklären, die ihn schon den ganzen Abend gefangen hielt. Mohammad hatte getrunken, wie jeden Abend. Er hatte gellend nach ihnen gerufen um ihm zuzuhören, wie er lallend seine Weisheiten über das Geheimnis des Erfolges von sich gab, während die Kinder müde von der Arbeit beinahe im Stehen einschliefen. Einmal hatte Adalla leise gebten gehen zu dürfen, doch Mohammad hatte zur Antwort eine Flasche geöffnet und gelacht. "Wir sind noch nicht fertig!" waren seine Worte gewesen. Beinahe zwei Stunden lang hatte er Vorträge gehalten und war schließlich auf dem Boden eingeschlafen, dein Geifer seines Rausches in den Mundwinkeln. Amir wagte es ihn zu wecken, empfing dafür eine schallende Ohrfeige und stützte den Trunkenen auf seinem Weg nach oben. Seitdem wälzte er sich in seinem Bett herum und konnte nicht schlafen. MEhr noch, er schien wacher als je zuvor zu sein. Die Stimmen von Männern auf dem Weg heim von der Taverne drangen durch die Nacht. Sie sangen Lieder. Amir resignierte und schwang sich aus dem Bett. In dem flimmernden Lichtschein des Mondes konnte er sehen wie Allada atmete. Sie schien nichts zu merken. Langsam bewegte Amir sich durch das Zimmer, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Den Weg zum Fenster fand er trotz der dunklen Schatten und er blickte in die Dunkelheit. Aus dem Zimmer nebenan konnte man deutlich das Schnarchen Mauhammads hören, der seinen Rausch in einem Zustand seliger Bewusstlosigkeit ausschlief. Amir betrachtete die nächtliche Straße. Ein paar Ratten versuchten, eine Lücke in einer Wand der Häuser zu finden um mit dem Nachtmahl zu beginnen. Irgendwo bellte leise ein Hund. Amirs Unruhe fand kein Ende. Er hob seinen Blick zu den Dächern und gefror, als er glaubte einen Schatten wahrzunehmen. Der Schatten verschwand ebenso schnell, wie er aufgetaucht war, aber Amirs Bewusstsein war alamiert. Angestrengt suchte er die Dächer ab. Und wirklich, erneut konnte er eine Silouhette erkennen. Sie wirkte unbeweglich und lautlos. Sie war bedrohlich. Die singenden Saufkumpanen waren nähergekommen und bogen in die Straße ein. Amir ärgerte sich als er ihnen einen Blick zuwarf und feststellen musste, dass er die Gestalt aus den Augen verloren hatte. Doch auch die torkelnden Männer schienen ihm anders, als erwartet. Sie wirkten...gekünstelt, so als wäre ihr Gebaren nicht mehr als eine Scherade auf den Bühnen der Nacht. Alles verschwamm um Amir. Sein Herz setzte aus. Im kalten Mondlicht blitzte ein Schwert.
Mit geschmeidigen Bewegungen glitt der Mann durch die Nacht. Er erklomm mühelos Dächer, rannte über Firste und sprang von Haus zu Haus. In den Straßen unter ihm ertönte der Gallop eines Pferdes wie ein Donner in den Bergen. Sie mussten sich beeilen. Die Feinde waren nah.
Lautlos und ohne recht zu wissen was er tat huschte Amir zu Alladas Nachtlager. "Seit wachsam, es sind heißte Nächte." hallten die Worte des Mönches in seinen Ohren wieder. Panik verzerrte immer wieder die Schemen vor seinen Augen, doch er rief sich selbst zur Ruhe. Sanft schüttelte er Adalla, bis sie sich schlaftrunken regte und ihn ansah. "Komm, wir müssen gehen."
"Tötet sie alle!" schrie der Attentäter auf dem Dach. Die anderen Männer folgten seinem Befehl und stürmte in das Haus. Hastig zückte er eine Fackel und setzte sie in Brand. Vorsichtig bewegte er sie hin und her und setzte das Dach in Brand. Dann verschwand er eben so lautlos, wie er gekommen war.
Muhammad rollte sich zur Seite, sein Atem ging rasselnd auf und ab. Sein Schlaf war bei weitem nicht traumlos, vielmehr wanderte er durch eine Reihe von Untertanen, die ihn als Händlerkönig verehrten und ihm Jubel riefen. Nichts hätte ihn aus diesem wunderbaren Koma erwecken können. Nichts außer ein Krachen, dass die Stille der Nacht zerriss. Und die Schreie, die folgten.
Allada schrie schrill auf, als die Hintertür buchstäblich nach innen flog. Amir reagierte schnell und zerrte seine Schwester wieder die Stiegen hinauf. Er rannte durch den Flur, öffnete ein Fenster und sprang auf den Ast des Baumes davor. Er hatte diesen Weg oft benutzt, um ungesehen das Haus zu verlassen und war nun froh, ihn zu kennen. Allada zog er mit sich. Zitternde Finger tasteten über trockene Rinde, bis sie das vertraute Seil berührten. Amir löste es von dem Ast und ließ es nach unten fallen. Hastig klettere er daran hinunter und rief nach Allada. Wimmernd folgte sie. Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, zerrte Amir sie weiter und blieb erst stehen, als sie hinter einem Fass in Deckung gingen. Noch in der Bewegung fließend richtete Amir sich auf und warf einen Blick zurück. Nur wenige Momente später tat seine Schwester es ihm gleich. "Verflucht was ist da los?" kam über Amirs zitternde Lippen, als er das hell erleuchtet Dach des Hauses sah. "Amir, Mutter ist da drin. Und Großvater!" Alladas Stimme überschlug sich beinahe. "Bleib hier." zischte Amir und sprintete los. Bis zum Baum war es nicht weit. Kaum hatte er den Stamm erklommen, hielt er ein. Ein Schrei hatte die Nacht zerrissen. Wie blutige Schlieren zerfloss das Bild der Umgebung für Amir. Der Feuerschein gab dem Moment etwas unwirkliches. Es war der Schrei seiner Mutter gewesen. Amirs Blick fiel durch das Fenster vor ihm. Am anderen Ende des Flurs stand seine Mutter an der Treppe, die Hände schützend über das Gesicht gehalten, umgeben von Männern, deren Mienen ihn frösteln ließen. "Du Hure, nun wirst du sehen was du davon hast Blutschande mit einem verdammten Heiden zu betreiben!" "Nein, ich bitte euch, haltet ein! Was hab ich denn getan? Ich bin eine Christin wie ihr!" " Das mag wohl sein, Weib. Aber dein Mann nicht!" Immer noch unfähig sich zu bewegen, unfähig einen Laut von sich zu geben, hockte Amir auf dem Ast, als sich eine Gestalt aus den Schatten löste. Der Mönch erschien so mühelos, als wäre er nie wo anders gewesen. Erneut blickte der Junge in ein von Schatten bedecktes Gesicht, nur konnte er diesmal ein Glimmen wahrnehmen, wo er die Augen des Mannes vermutete. "Amir! Du musst gehen!" flüsterte der Mönch. Panik kontrollierte die Stimme des Jungen. "Was ist passiert? Wer bist du? Meine Mutter..?!" "Schweig. Überlass das mir. Geh jetzt!" Amir sürte die Hände des Mönches auf seinen Schultern. Als er den Kopf hob, konnte er für wenige Momente das Antlitz des Mannes sehen. Dann versetzte die Gestalt Amir einen Stoß und er fiel zu Boden, inmitten eines Heuhaufens. Durch die Dunkelheit nahm er kaum war, dass der Mönch ins brennende Haus kletterte. Langsam näherte sich Amir das pochen schnell laufender Pferdehufe. Als er aufsah, stoppte ein riesiges, braunes Tier vor ihm. Auf ihm ein weiß gekleideter Mönch und hinter ihm...Allada. Der Mann packte Amirs Handgelenk und zog ihn in die Höhe. "Steig auf!" Amir wagte es sich nicht zu wehren als er vor den Mönch in den Sattel gezogen wurde. Eben alls der Mann das Tier wandte, ertönte ein weiterer Schrei. Das Pferd preschte los, Amir drehte sich um. Er sah Alladas weißes Gesicht, das Haus, das bereits voll Raub lodernder Flammen geworden war und Männer in weiß-roten Gewändern, die daraus flüchteten. Und er sah eine brennende Gestalt, die aus dem Haus wankte und schrie. "Leiala!!!!!!!!!"
Die Hufschläge des rennenden Pferdes hallten von den Wänden ebenso wieder wie sein angestrengtes Schnaufen. Es schien als flogen sie über den Boden hinweg. Amir saß stocksteif aufgerichtet, Blitze durchzuckten seine Sicht und immer wieder sah er den brennenden Mann vor sich, die Arme zum Himmel gereckt, den Namen seiner Mutter rufend. "Halt dich fest!" rief ihm der Reiter ins Ohr. Seine Hände bewegten sich ohne Zutun und fassten tief in die Mähne des Pferdes. Als sie über eine kleine Mauer hinwegsetzten, schrie Allada leicht auf. Amir wurde aus seine Starre gerissen. "Bleibt stehen! Ich verlange das ihr stehen bleibt!" schrie er über seine Schulter. Doch der Unbekannte riss das Pferd um eine Ecke und trieb es noch schneller eine Hauptstraße entlang. Nur leicht in der Ferne war der Glockenschlag der Feuerwarnung zu vernhemen, Amir vermutete, dass sie sich nur mehr wenige Straßen vor dem Haupttor befanden. Der Fremde musste die Stadt kennen um in so einem Tempo die richtigen Straßen zu erwischen. In irrsinnigen Wendungen trieb er das Pferd durch die engen Gassen und übersprang mehrere Hindernisse, die ihm in den Weg kamen. Dabei änderte sich seine Haltung kaum, er schien das Pferd beinahe ausschließlich mit seltsamen, kurzen Lauten zu kontrollieren, denen das Tier augnblicklich Folge leistete. Die Arme des Mannes waren fest um Amir geschlossen, und verhinderten, dass er vom wogenden Hals des Pferdes stürtzte. Regung kam erst in den fremden Reiter, als sich sich den Wachen am Haupttor näherten. Eine flüchtige Bewegunge, ein Zischen zerschnitt die Stille und zwei der Wachen gingen zu Boden. Das Pferd preschte durch die entstehende Lücke und riss zwei überraschte Männer mit sich, bevor es wie von Raubtieren gejagt über den Weg durch das Dorf gallopierte. Weit hinter ihnen erklangen die aufgeregten und verwirrten Rufe der Wächter, als Amir wieder wagte die Augen zu öffnen. Schehmen flogen an ihm vorüber und die Umgebung schien sich aufzulösen. Nach einer Weile bekam er Kopfschmerzen davon. Er schloss die Augen erneut und krallte seine Finger tiefer in die Mähne des Pferdes. In rasendem Tempo stoben sie durch das Dorf und ritten der Schwärze der dunklen Wüste entgegen.
Erst Ewigkeiten später schien das Tier langsamer zu werden. Der Fremde zügelte es und lenkte in gemütlichen Trab die menschenleere Straße entlang. Der Weg führte zu einem kleinen Bach, der um diese Jahreszeit nicht viel Wasser führte. Nichts destotrotz begann das Pferd sofort zu saufen. Starke Hände ergriffen Amir und ließen ihn auf den Boden hinab. Er sank zusammen, als sie ihn losließen. Adalla folgte und Amir merkte, dass sie laut schluchtzte. Vorsichtig kniete sich der Reiter zwischen sie. "Seid mir gegrüßt. Habt keine Angst, euch wird nichts geschehen!" Eine Mischung aus Trotz, Angst und Schrecken bestimmte Amirs Antwort. "Keine Angst? Seid ihr den blind gewesen? Unsere Mutter...sie war in dem Haus! Der Mann...Wer seid ihr?" Für Amir war es nicht die Zeit, einem dunklen Fremden zu vertrauen. Er war wütend wie ein Kinder behandelt zu werden. Mit unverdrossenem Ärger strarrte er dem Reiter in die Augen. Der Fremde erhob sich langsam und ging zu dem Pferd. Er zog ein Päckchen aus einer Satteltasche und reichte es der weinenden Allada. "Iss, Mädchen, das wird dir helfen." befahl er. Dann wandte er sich wieder an Amir, der regungslos im Sand kniete. "Ich bin Malik. Das ist alles, was ihr im Moment zu wissen braucht." Amir betrachtete Malik genauer. Hätte er die Kapuze seiner Kleidung getragen, hätte er dem Bild des Mönches auf dem Marktplatz entsprochen, doch Amir fühlte, dass er es nicht gewesen war. Der brennende Mann...Malik hatte seine Kopfbedeckung zurückgestriffen und der Mond warf Licht auf seine Miene. Er mochte Anfang zwanzig sein, besaß feine Züge und einen aufrichtigen Blick, mit dem er Amir nun betrachtete. "Ich muss nur wissen ob du mir vertraust, Amir. Ich habe den Auftrag dich und deine Schwester zu schützen und ich verspreche dir, das du schon bald mehr erfahren wirst." Amir bemerkte, dass Malik nicht mehr wie zu einem Kind mit ihm sprach. Seine Worte waren ehrlich und er verlangte eine ehrliche Antwort. Die Gedanken des Jungen kreisten. Was, wenn Malik zu jenen gehörte, die sie überfallen hatten? Wen hatte sein Großvater im Handel betrogen, dass es eine solche Tat rechtfertigte? Seine Mutter, war sie noch am Leben? Zu viele Fragen, zu viel Müdigkeit. Amir wollte schlafen, hoffte aus diesem Alp zu erwachen. Er nickte kaum mekrbar. Das Kind in ihm regte sich und drängte Tränen in seine Augen. Sein Blick fiel auf Adalla. Sie war aufgestanden und zu ihm gekommen. Amir schlang seine Hände um die Hüfte des Mädchens und weinte.