Als das Reich, über dem die Sonne nie untergeht, sollte das britische Empire in die Geschichte eingehen. Zwar nicht im übertragenen Sinne, aber wörtlich genommen, trifft dieses Zitat auch heute noch zu – über mindestens einem der Staaten des Commonwealth ist es immer Tag.
In seiner Blüte umfasste das britische Weltreich 25% der Erdoberfläche. Politisch war sie dafür zwar kaum verantwortlich, eine Person wurde dabei aber trotzdem so sehr zur Symbolfigur des Aufstiegs der Nation, dass man den Zeitraum ihrer Herrschaft nach ihr benannte: Queen Victoria.
Mit beinahe 64 Jahren war ihre Herrschaft bis vor Kurzem sowohl die längste eines britischen Throninhabers und die längste eines weiblichen Staatsoberhauptes überhaupt. Allein ihre Ururenkelin Elisabeth II. konnte sie überbieten und hält beide Rekorde seit September 2015. Doch wie kam es dazu?
Während der Jugend Victorias galt die Personalunion zwischen den Königreichen Großbritannien und Hannover. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war damit der König von Hannover gleichzeitig auch König von Großbritannien. Auch Victorias Mutter, Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld, war eine Deutsche und heiratete 1818 den Duke von Kent, Edward Augustus.
Ein Jahr später kam die Tochter der beiden zur Welt und wurde auf den Namen Alexandrina Viktoria getauft. Dass diese einmal den britischen Thron besteigen würde, konnte damals aber noch niemand ahnen. Victoria stand nur an fünfter Stelle der britischen Thronfolge. Der britische König Georg IV., der zugleich der Bruder ihres wenige Monate nach ihrer Geburt verstorbenen Vaters war, konnte weder seine Nichte Victoria noch ihre Mutter ausstehen.
Der Nachlassverwalter ihres Vaters, John Conroy, hatte jedoch Pläne, nach denen Victoria Herrscherin über das Königreich werden sollte. Der Clou: er wollte, dass dies geschah, solange sie unmündig war, sodass er effektiv die Staatsgeschicke lenken konnte. Um seinen Einfluss auf Victorias Mutter zu sichern, sorgte Conroy dafür, dass diese und ihre Tochter abgeschottet vom restlichen Hofstaat lebten. Dafür streute er allenthalben Gerüchte, selbst nachdem der ungeliebte Georg auf dem Thron von seinem jüngeren Bruder Wilhelm ersetzt worden war. Als Conroy erkannte, dass Victoria bei ihrer Thronbesteigung vermutlich volljährig werden würde, setzte er sie zunehmend unter Druck, ihm die Regierungsgeschäfte zu übertragen. Obwohl ihre Mutter ihn dabei unterstütze, weigerte sich Victoria, worüber es zum Bruch mit beiden kam.
Victoria im Körnungsornat, 1837
Als Wilhelm 1837 starb, hatte keines seiner Kinder überlebt, um einen legitimen Anspruch auf die Krone erheben zu können. Daher bestieg Victoria im Alter von 18 Jahren den Thron, obwohl sie kaum auf ihre Rolle vorbereitet war. Allein ihr Onkel Leopold, der belgische König, hatte ernsthaft versucht, sie für die Herausforderungen der Regentschaft zu rüsten. Sie verließ sich in den folgenden Jahren daher ganz auf den britischen Premierminister Lord Melbourne, der nicht nur ihre Erziehung vervollständigte, sondern ihr zum Teil sogar in privaten und modischen Fragen beistand.
Zunächst kostete unbedachtes Handeln die Königin einiges Ansehen beim Volk. Sie war als emotional bekannt und man erhoffte sich, dass sie bald heiraten würde, um die unruhigen Verhältnisse zu entspannen. Genau dies Tat sie 1840, als sie einen Cousin heiratete, Albert von Sachsen-Coburg und Gotha. Victorias Onkel Leopold hatte bereits Jahre zuvor beabsichtigt, dass diese und Albert heriateten und daher ein Treffen arrangiert. Victoria soll sich bereits damals in ihn verliebt haben – ob man die Ehe der beiden als eine reine Liebesheirat bezeichnen kann, ist jedoch fraglich, denn das war in Kreisen des Hochadels höchst unüblich. Kurios: da sie die Königin war und im Rang über Albert stand, konnte er ihr keinen Heiratsantrag machen. Entsprechend war sie es, die die entscheidende Frage stellte. Darüber hinaus führte Victoria auch die Tradition des weißen Brautkleides ein: diese geht auf das Kleid zurück, dass sie bei der Vermählung trug.
Prinz Albert, 1842
Über die Jahre unterstütze und beriet Albert die Königin deutlich; er hatte über den Verlauf der einundzwanzig Jahre währenden Ehe beträchtlichen Einfluss auf sie. Unter anderem nahm er sich auch der Sozialpolitik an, für die sich die Regentin selbst kaum interessierte. Obwohl sie das Leid, welchem sie konkret selbst begegnete, nicht kalt ließ, nahm sie auf die Revolution von 1848 keinen Einfluss. Zu ihrem Glück verlief diese in Großbritannien, anders als beispielsweise im wenig entfernten Frankreich, vergleichsweise gewaltfrei.
1861 starb Prinzregent Albert im Alter von nur 42 Jahren, was Victoria bis an ihr Lebensende mitnehmen sollte. Sie trug fortan nur noch Witwentracht und enthielt sich für mehr als ein Jahr jeglicher öffentlicher Auftritte. In den kommenden Jahren wirkte sie zwar ihrer Rolle entsprechend in der Regierung mit, versuchte aber die Öffentlichkeit weitestgehend zu umgehen, was sie Ansehen beim Volk kostete. Man war der Ansicht, die Königin vernachlässige ihre Pflichten. Nicht einmal zur jährlichen Eröffnung des Parlaments erschien sie persönlich, wenn es sich denn irgend vermeiden ließ. Ihrer Opposition begegnete sie häufig mit der Drohung, abzudanken, sofern diese sich nicht ihrem Willen beuge. Insgesamt entsprach dies ihrer Rolle als konstitutioneller Monarchin: Sie hatte zwar wenig echte politische Macht, konnte aber durch das mit ihrer Position verbundene Prestige nicht zu unterschätzenden Einfluss nehmen.
Mit fortschreitendem Alter verschärften sich ihre von Kindheit an schon vorhandene strikte Lebensweise und vor allem die außerhalb des engsten Kreises wenig umgängliche Art. Insbesondere nach Alberts Tod duldete sie keinerlei Kritik an ihrer Person und ihren Entscheidungen und wurde zunehmend halsstarriger. All dies trug letztlich in großem Maß zu ihrem Ruf als einsamer und kalter Herrscherin über ein gigantisches Reich bei.
Obwohl Indien bereits seit mitte des 18. Jahrhunderts und damit über 60 Jahre vor Victorias Geburt eine britische Kolonie war, wurde sie die erste offizielle Kaiserin Indiens. Faktisch hielt sie den Titel als Königin des Reiches ohnehin inne, offiziell wurde er ihr allerdings erst 1876 verliehen. Der Grund für die Initiative: Ihre Tochter, die denselben Namen wie sie trug, war die zukünftige Kaiserin des seit 1871 bestehenden Deutschen Reiches. Im Falle einer Thronbesteigung hätte sie damit einen höheren Rang als ihre Mutter innegehabt. Mithilfe des Premierministers Benjamin Disraeli, der seit längerem ein enges Verhältnis zu ihr pflegte, ergriff Victoria die Gunst der Stunde, um sich einen weiteren Titel und damit den Vorrang vor ihrer Tochter zu sichern.
Victoria und Benjamin Disraeli
In der Folge zeigte sie sich erneut häufiger in der Öffentlichkeit und gewann an Beliebtheit. Schließlich wurde sie in den letzten Jahren ihrer Regentschaft zur Mutter der Nation als die sie heute bekannt ist (nicht zu verwechseln mit dem Spitznamen „Großmutter Europas“, der auf ihre zahlreichen, in europäischen Monarchien verstreuten Enkel zurückgeht). Zu den Feierlichkeiten ihres goldenen Thronjubiläums 1887 wurden eine große Zahl europäischer Adliger und Delegationen aus aller Herren Länder erwartet, was die Bedeutung Victorias und Großbritanniens unterstrich. Als sie 1901 im Alter von 82 Jahren starb, war sie auf dem Höhepunkt ihrer Popularität und das Britische Weltreich hatte seine größte Ausdehnung überhaupt erreicht.