6. Neun Leben
Das Gespräch bedurfte besondere Vorbereitungen, fand Al Mualim, denn er konnte sich nicht sicher sein, wie Altair auf ihn reagieren würde, wenn sie sich erneut gegenüberstanden. Bewusst hatte er drauf gewartet, dass sein Schüler wieder seine alte Form fand, bevor er geruhte ihn zu sich zu rufen. Natürlich konnte der Meister nicht erwarten, ihn in voller Stärke wie einst zu sehen, doch das war auch nicht von Nöten für die Dinge, die vor ihnen lagen. Altair würde mit seinen Aufgaben wachsen, das hatte er immer schon getan und Al Mualim hoffte inständigst, dass er nun, da er den Edensplitter besaß, endlich Kontrolle über den Kämpfer erlangen konnte.
Beinahe zärtlich hielt er das uralte Artefakt, dass den Frieden für alle Zeit versprach, in seinen Händen. Bevor er dazu schreiten konnte, das Heilige Land aus dem Krieg zu führen, mussten noch einige unangenehme Probleme beseitigt werden. Sie wussten, dass er es besaß und sie würden nicht aufhören ihn zu jagen, bis sie es endlich hatten. Al Mualim hatte in seinem Leben zwei Eide geschworen, einen der Bruderschaft der Assassinen, einen anderen, verhängnisvolleren einer Gruppe von Männern, deren Interessen er zu teilen glaubte. Es war an der Zeit diesen Schwur zu brechen und Altair Ibn La-Ahad würde seine Waffe sein.
Es war ein denkwürdiger Moment. Der Meister hatte absolute Ruhe verlangt, sogar die Wächter in der Halle hatte er entfernen lassen, um sicher zu gehen, dass sie keinesfalls gestört wurden. Samut hatte gewissenhaft darauf geachtet, dass der Assassine keiner Waffen habhaft werden konnte, aber Al Mualim hatte Altairs Fähigkeiten zu gut in Erinnerung um den Irrglauben zu erliegen, dieser könne ihn nicht mit bloßen Händen töten. Dementsprechend trug er selbst seinen verborgenen Dolch unter dem Ärmel der Robe, wollte ihn aber nur im äußersten Fall einsetzen. Ganzheitlich betrachtet war er Altair einen wichtigen Schritt vorraus: Er hatte eine ähnliche Situation wie diese bereits einmal erlebt, nur dass er damals den Fehler gemacht hatte, nachzugeben.
Vorsichtig legte Al Mualim den Edensplitter wieder in ein golden verziertes Kästchen zurück und schritt zu den Regalen, um seinen Schüler wie einst mit einem Buch in der Hand zu empfangen. Er musste sich nicht umwenden um zu merken, dass Altair den Raum betrat. Die Atmosphäre zwischen den langen Wänden alten Holzes änderte sich schlagartig, es war als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben und das Licht sonderbar grau werden lassen. Beide sprachen kein Wort, ließen die Spannung zwischen sich fließen und ein jeder suchte die Vorhaben des anderen zu durchschauen.
Der Meister wartete geduldig, diesmal lag es an Altair, den ersten Schritt zu tun. Dieser hatte reiflich überlegt und war zu dem selben Schluß gekommen. "Friede sei mit euch, Al Mualim!" sprach er und setzte dazu an, sich vor dem Alten zu verneigen, doch dieser gebot ihm mit einer einzigen Handbewegung Einhalt. "Spart euch dass, mein Kind, wir wissen nicht, ob ich wirklich noch euer Meister bin!" Peinlich genau achtete Al Mualim darauf, dass genügend Abstand zwischen ihnen blieb, wirkte dabei aber völlig gelassen. Sein Schüler hatte diese Eigenschaft jahrelang studiert und sie ebenso übernommen, auch er wirkte kühl und distanziert, jedoch nicht angespannt.
"Nun, ihr ließet mich glauben, dass ihr mich sterben lasst, und doch stehe ich letztendlich wieder hier. Welchen Grund sollte das haben als das ihr weiterhin meiner Dienste bedurftet?" "Mein Kind, ich ließ euch nicht glauben, ich würde euch töten, ich habe es getan! Das ihr weiterleben durftet, war nicht meine Entscheidung, das lag bei einer höheren Instanz. Ich gedenke lediglich, diesen Umstand zu nutzen!"
Hätte jemand die Szene beobachtet, wäre er dem Gefühl verfallen, dass zwei lauernde Raubtiere aufeinandertrafen. Der Meister begann, den Assassinen zu umkreisen, dieser erstarrte wie eine Salzsäule, wusste aber in jedem Moment genau, wo sich die Finger Al Mualims befanden. "Wisst ihr, Altair, ihr seid wahrhaft erstaunlich! Selbst wenn man euch tot glaubt wirkt ihr noch auf die Menschen ein und ich war überrascht, Fürsprecher für euch zu finden. Was mich doch am meisten wundert, ist dass ich übersehen hatte, dass ihr doch fähig seid, eine Freundschaft, eine wahre Treue zu entwickeln, denn nur das kann der Grund dafür sein, das Malik al Sayr bei mir um euer Leben bat."
Für Sekundenbruchteile entglitten Altair die Züge. Das musste ein Scherz sein! Nach allem, was passiert war, konnte Malik ihm unmöglich noch gut gesonnen sein und wenn war er ein verdammter Narr! Wäre er selbst in der gleichen Situation wie sein Freund gewesen, er hätte sich seine eigene Leiche geholt und so lange darauf eingeprügelt, bis er sicher gehen konnte, dass kein Leben mehr darin war.
Al Mualim wusste, welche Wirkung seine Worte gehabt haben mussten und zog es vor fortzufahren, bevor sein Schüler Fragen stellte. "Er hat mich davon überzeugt, dass es eine Verschwendung meiner Zeit und eures Talents wäre, euch sterben zu lassen und zu beerdigen. Auch wenn ich zumindest im ersten dieser beiden Punkte nicht ganz seiner Meinung bin, letztlich kann ich seine Ansichten verstehen."
"So müsst ihr mich wieder in den Orden aufnehmen und meinen Namen reinwaschen! Ihr nanntet mich einen Verräter!" fuhr es aus Altair hervor, sein alter Stolz gewann langsam wieder an Nahrung. Der Meister seufzte lang und eindringlich. "Ach, mein Kind, vielleicht ist es einfach euer Alter, dass euch derart unumgänglich macht! Ihr zählt kaum eine Vierteljahrhundert und benehmt euch, als besäßet ihr die Weisheit eines alten Mannes, dabei seid ihr noch so weit davon entfernt, allwissend zu sein! Wie wollt ihr den Frieden unter die Menschen bringen, wenn ihr ihn nicht in euch selbst gefunden habt?" "Indem ich dem Credo folge, nichts für wahr erkläre und tue was mir erlaubt ist!"
Al Mualim entspannte seine Dolchhand. Ihre Unterhaltung fand die alten Muster wieder, er fürchtete nun nicht mehr, von Altair angegriffen zu werden. Im Gegenteil schien ihm der Assassine viel ruhiger als zuvor, wenn auch immer noch Hochmut aus seinen Worten klang, die plötzlich aufbrausende Aggression hatte sich gelegt. Nun würde sich zeigen, ob sein Schüler es schaffen würde, sich von den Fesseln der Überheblichkeit zu lösen. Der Meister wandte sich um und sah Altair direkt in die Augen.
"Nein, Altair, diesmal werden wir nicht einfach an dem Punkt weitermachen, an dem wir aufgehört haben! Es wäre verantwortungslos und dumm, euch erneut einen derartigen Vorschuss an Vertrauen zu geben, wie ihn euer ursprünglicher Rang darstellt!" "Was meint ihr damit?" Al Mualims Stimme senkte sich. "Ich habe ein Angebot, eines das jenem ähnelt, dass ich euch schon einmal gemacht habe! Tretet erneut als Novize in diese Bruderschaft ein, beweist mir, dass ihr es immer noch wert seid, ein Meisterassassine genannt zu werden und ich bin bereit euch eure Taten zu verzeihen!"
Früher wäre der Schüler bei solchen Reden sofort wütend aufgefahren, doch er war an den Ereignissen gereift und ließ sich einige Momente Zeit, darüber nachzudenken. "Ich soll mein Leben damit verbringen, ein Lehrling zu sein? Mit Kindern auf dem Platz kämpfen? Mir von Jüngeren die Kunst der Lautlosigkeit erklären lassen? Mich erneut für beinah zehn Jahre an Maysaf binden? Verzeiht, Al Mualim, aber dies ist zu viel verlangt!" antwortete er schließlich gefasst und entschlossen. Der Meister lächelte geheimnisvoll. "Ihr besitzt einen exzellenten Verstand, benutzt ihn auch! Natürlich werde ich euch nicht hier gefangen halten, welchen Nutzen hätte ich daraus? In einem solchen Fall wäre euer Tod einfacher gewesen! Nein, Altair, was ich euch unterbreite ist umfangreicher...es geht nicht darum, dass ihr euch zwischen der Existenz als Assassine und jener als ein Niemand entscheiden müsst, vielmehr verlange ich, dass ihr eine Aufgabe erfüllt, innerhalb derer ihr beweist, dass ihr überhaupt Berechtigung besitzt, weiter zu atmen! Ich habe hier eine Liste mit neun Namen und euer Ziel soll es sein, jeden dieser Männer zu vernichten!" "Ihr fordert neun Leben für das meine?" Al Mualim nickte stumm und Altair zog seine ganz eigenen Schlüsse aus dieser Wendung. Für den Meister schien er immer noch wichtiger zu sein, als er erwartet hatte.
"Und mein Rang?" "Ihr werdet ganz unten beginnen, dort wo die wahre Arbeit liegt! Ihr werdet euch jede einzelne Information selbst zusammensuchen, niemand wird das mehr für euch erledigen! Und ihr werdet jeden Verbindungmann jeder Stadt Rechenschaft ablegen und um Erlaubnis zu handeln bitten! Wenn ihr schlau seid, mein Kind, werdet ihr eure Lektion sehr schnell lernen. Sie lautet Demut."
Der Meister trat zu seinem Tisch, legte den Zettel mit den Namen der Zeile darauf und ließ ihm ein Schwert folgen. Mehr Ausrüstung war Altair in seinem gegenwärtigen Rang nicht erlaubt zu tragen. Die Hitze im Raum hatte sich verdichtet und ließ Schweißperlen auf der Stirn des Alten entstehen, abwesend wischte er sie weg und begegnete erneut dem Blick seines Schülers. "Habt ihr noch irgendwelche Fragen?" "Nur wo ich anfangen soll!" antwortete der Assassine.
Beinahe ungewohnt lag der Griff des Schwertes in Altairs Hand, das Gefühl endlich wieder eine Waffe zu tragen überwältigte ihn jedoch. Er war so sehr daran gewöhnt gewesen, dass ihm ihr Fehlen ständig auffiel und seine Bewegungen ohne ihre Last unkoordiniert wirkten. Nun hatte er wenigstens eine von ihnen wiedererlangt und fühlte sich sogleich besser. Zwar empfand er es als Schande, was Al Mualim ihm zumutete doch er wusste, dass er wieder ein Assassine sein musste, was hätte er sonst tun sollen? Den Großteil seines Lebens hatte er damit verbracht, Menschen zu töten und die Vorstellung, was er sonst mit seiner Zeit anfangen sollte, erschien ihm skurril.
Gleichzeitig regten sich immer wieder diese Gedanken in ihm, dass seine Geschichte noch kein Ende gefunden hatte, dass er gerade erst an der Schwelle des Weges stand, der ihn zu dem Geheimnis führen würde, das hinter all den Geschehnissen in seinem Leben lag. So hatte er sich dem Wunsch des Meisters gebeugt, eingewilligt sich demütigen zu lassen und Altair hoffte inständigst, dass er es ertrug ohne jemanden dafür töten zu müssen.
Jene Momente unkontrollierbarer Wut, auf die er so stolz gewesen war, erlaubten sie ihm doch auch den stärksten Gegner zu schlagen, waren nun das letzte, was er wünschte, sie hatte zu seinem Versagen geführt. Seine Finger fanden den Weg zu seinen Lippen, wo er die quer darüberlaufende Narbe berührte, die der Dolch Al Mualims hinterlassen hatte. Sie würde ihn daran erinnern, wachsam über sich selbst zu sein.
Die erste seiner Aufgaben lag in Damaskus und der Meister hatte ihm Eile geboten, Altair wollte jedoch einen letzten Versuch wagen, mehr über seinen Vater zu erfahren, bevor er Maysaf verließ. Der Hof der Burg war erfüllt von dem dumpfen Klang der Holzschwerter, die die Novizen aufeinanderprallen ließen, während Hassan hoch aufgerichtet zwischen ihnen einherschritt und Befehle erteilte. Altair nahm sich einen Moment Zeit, um den Lehrer genauer zu betrachten.
Jeder Zoll an diesem Mann drückte aus, dass er ein Kämpfer war. Hassan bemühte jeden Morgen seine Kondition, in dem er mehrere Meilen lief und seine Muskeln mit dem Heben schwerer Steine kräftigte. Dennoch waren seine Bewegungen elastisch und flexibel, wenn er eine Klinge führte. Die Miene geziert von mehreren Narben vermochte er den Schülern im ersten Jahr Alpträume zu bescheren, wenn sie seinen Zorn auf sich zogen. Altair hatte Hassan nie gefürchtet, respektierte aber die Perfektion mit der er seine Lehren betrieb.
Er gab sich einen Ruck und trat in den Übungsring, was die Novizen pflichtbewusst zu übersehen versuchten. Hassan bemerkte dennoch, wie einige von ihnen in der Bewegung kurz einhielten und drehte sich langsam um. "Weitermachen!" befahl er, wischte sich eine Strähne aus den Augen und kam dem Assassinen entgegen.
"Altair! Wie ich sehe hat Al Mualim euch vergeben und wieder in die Bruderschaft aufgenommen! Seid versichert, dass ich euch dies aus vollem Herzen gönne!" Seine Worte waren pflichtbewusst, aufgesetzt, zwischen den Zeilen lag tiefes Misstrauen. "Habt meinen Dank! Wie geht die Ausbildung eurer Schüler voran?" versuchte Altair den kühlen Ton des Kampflehrers zu überhören. Hassan lächelte als er beschloss, den verlorenen Bruder auf seine ganz eigene Art und Weise wieder im Orden zu begrüßen. Er selbst hatte ihn kämpfen gelehrt und brannte darauf zu sehen, ob der Assassine eingebüßt hatte, was ihn auszeichnete, oder ob die Lektionen ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die Schüler unterbrachen ihre Übungen erneut, als er seine Stimme hob.
"Nun, einige dieser Jünglinge wissen nicht mit einer Klinge umzugehen. Was denkt ihr davon, wenn wir beide ihnen eine kleine Demonstration wahren Könnens zuteil werden lassen?" Altair sah überrascht hoch. Vor seinem schändlichen Versagen hätte er niemals auf eine solche Forderung eingewilligt, er stand zu weit über den Dingen, um sich vor anderen profilieren zu müssen. Jetzt, da Al Mualim ihn degradiert hatte, würde er sich den Respekt jedoch neu erkämpfen müssen. Diese Erkenntnis war unangenehm, aber essentziell. Der Assassine begriff, dass für ihn bedeuten würde, sich von nun an jeder Situation zu stellen, gleich ob es ihm beliebte oder nicht. Sein Rang und Titel schützte ihn nicht länger davor, zu dem zu stehen, was er vorgab zu sein, wenn jemand daran Zweifel hegte. "Es wäre mir eine Ehre!" antwortete er knapp und trat entschlossen vor.
Die Novizen verließen blitzschnell den Ring, es war nicht notwendig, sie dazu aufzufordern. Hassan zog sein Schwert und begab sich in die Mitte des Platzes. "So lasst uns beginnen! Und habt keine Sorge Altair, ich weiß dass ihr zur Zeit nicht in voller Form seid und werde euch schohnen!"
Mit hellem Klirren prallten die Klingen regelmäßig aufeinander. Hassan und Altair bewegten sich in einer perfekten Synchronität von Angriff und Abwehr, hechteten abwechselnd nach vor, um zuzustoßen, oder wichen zurück, um den Schlag des anderen ins Leere zu führen. Was der Kampflehrer ihm hier bot, war ein Schauspiel wie aus einem Lehrbuch, eine leidenschaftslose Ertüchtigung, die den unwissenden Schülern jedoch grandios vorkam. Sie starrten gebannt auf die beiden Kämpfer und hie und da wurden Rufe laut.
Niemand bemerkte, dass Al Mualim hoch auf den Zinnen eines Turmes auf die Szene herab blickte und wartete.
Hassans Taktik veränderte sich allmählich und seine Angriffe gewonnen an Stärke und Geschwindigkeit. Als sein Gegner einen seiner Schläge konterte, griff er die Robe des Assassinen, stieß ihn nach hinten und holte gekonnt aus. Altairs Körper reagierte schneller als sein Geist und er wirbelte in einer Drehung, die ihn direkt neben Hassan brachte, herum, hob sein Schwert und hielt es dem Lehrer an die Kehle. Nur der Atem seines Gegners drang an sein Ohr.
Die Zuschauer hatten den ihren angehalten, und Hassan duckte sich urplötzlich unter der Klinge durch und hieb in Richtung der Beine des anderen. Wieder mussten seine Gedanken keinen Befehl senden, um Altair in Bewegung zu bringen. Er sprang hoch und warf sich zur Seite, rollte über der Schulter ab und kam sofort wieder zum Stehen.
Der Kampflehrer setzte zu einem neuerlichen Angriff an, wurde jedoch von dem Assassinen gestoppt. "Ich denke das genügt, um zu verdeutlichen, dass wir beide es verstehen ein Schwert zu führen!" sprach Altair laut. Hassan nickte knapp, er hatte erwartet, dass der andere bis zum bitteren Ende gehen würde wollen, denn das war, was er von ihm kannte, war jedoch insgeheim froh, dass sie jetzt schon endeten. Er hatte seinen Gegner unterschätzt, er war wohl doch mehr bei Kräften, als man im Moment von ihm vermuten würde.
Altair hatte in den letzten Wochen sehr darauf geachtet, dass niemand seines Trainings gewahr wurde und selbst in der einfachen Einrichtung des Krankenzimmer Möglichkeiten gefunden, seine Fähigkeiten wieder zu erwecken.
Schulter an Schulter traten sie aus dem Ring und Hassan entließ seine Schüler zu einer anderen Lehrstunde. Während er seine Handschuhe entfernte und sie an den Stiefeln ausklopfte, blickte er beiläufig auf. "Ihr seid ein guter Kämpfer, Altair, aber eure Verteidigung ist immer noch eure Schwäche!" "Solange meine Flexibilität nicht darunter leidet, wird es mir zum Sieg gereichen!" antwortete der Angesprochene knapp. "In älteren Tagen hätte ich solche Antworten gebilligt, aber ich fürchte zur Zeit müsst ihr meine Ratschläge stillschweigend annehmen." Hassans Ton war simpel, er verlieh den Worten keinen Nachdruck, denn er wusste um die Befehle, denen Altair unterstand.
Dieser hatte sich auf den Boden gehockt, griff eine Handvoll Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln. "Da seid ihr im Recht. Ich sollte euch für eure Belehrung wohl eher danken." Einige Wächter zogen an ihnen vorrüber, sie waren auf dem Weg an die Grenze, wo sie des Nachts Raouls Männer verstärken sollten. Al Mualim hatte Maßnahmen getroffen, de Sable würdig zu begrüßen, sollte er zurückkehren. Hassan hob die Hand und grüßte sie, bevor er sich wieder dem Assassinen zuwandte. "Worauf läuft dieses Gespräch hinaus? Ihr seid gewiss nicht gekommen um mich um meinen Segen zu bitten!"
Ein neuer Regen golgebelben Sandes fiel zwischen Altairs Händen nieder. "Seht Hassan, diese Körner sind alle Teile einer großen, alles umfassenden Wüste, doch jeder einzelne für sich wird verweht von den Stößen eines lauen Windes..." Stille dominierte die nächsten Sekunden, in denen der Kampflehrer sich ernsthaft fragte, ob mit seinem ehemaligen Schüler auch dessen Verstand erwacht war. "Spart euch die Metaffern, kommt zum Punkt!" schnappte er jedoch schließlich, als er sich erinnerte, dass Altairs Verhalten, so seltsam es auch manchmal war, immer einen tieferen Grund entsprang.
Der Assassine erhob sich und wischte den Staub aus seinen Händen. "Genauso verhält es sich mit Legenden. Jede einzelne von ihnen ist eine Mähr, doch kennt man sie alle, kann man ein Körnchen Wahrheit in ihnen finden." "Mir ist immer noch nicht klar, was das soll!" "Erzählt mir eine Geschichte, Hassan, legt mir dar, warum ihr meinen Vater so verachtet habt."
"Darüber möchte ich nicht sprechen!" Hassan beendete die Zusammenkunft, in dem er herumfuhr und über den Hof schritt. Hinter ihm erwachte die Stimme Altairs, sie schnitt durch die drückende Schwüle der mittäglichen Sonne. "Wollt ihr mich mit jenem Bild über ihn zurücklassen, dass Al Mualim und andere seiner Verbündeten zeichneten? Denkt ihr nicht das ich ein Recht darauf habe zu erfahren, warum einige der Meinung sind, er hätte dem Orden geschadet?" Der Kampflehrer hielt in der Bewegung ein, rang einige Minuten mit sich und kehrte schließlich langsam zu dem Assassinen zurück. "Warum sollte es gerade euch rühren, ob euer Vater Schande über uns gebracht hat? Es ist noch nicht lange her, dass ihr selbst unsere Gesetze verraten habt!" erlaubte er seinem Argwohn sich Ausdruck zu verleihen. "Weil ich mich frage, warum ich trotz meiner törichten Taten, trotz meines Stolzes und trotz meiner Zweifel immer noch wichtig genug für die Bruderschaft bin, um am Leben zu bleiben!"
Dies klang Hassan einleuchtend genug, um nachzugeben. "Also gut, aber nicht hier. Wie ich hörte werdet ihr Maysaf noch heute verlassen. Ich werde mit euch bis zur Grenze reiten."
Al Mualim war nicht begeistert, dass sein Schüler Maysaf an diesem Abend in Hassans Begleitung verließ, er hielt die beiden jedoch nicht davon ab, obwohl es nur einige kleine Befehle gebraucht hätte. Altair begann also Fragen zu stellen, der Meister hatte diese Wendung erwartet, mit Cihan war es ähnlich gewesen, als er dieses Alter erreichte. Wichtig war nur, dass der Assassine über die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit sein Ziel nicht vergaß. Betrachtete man es genauer, war es vielleicht gar nicht schlecht, dass er seine Aufmerksamkeit nicht näher darauf richtete, warum er diese Männer töten sollte. Al Mualims Hände erwärmten sich, als er seinen Schatz erneut zu sich nahm.
Leichter Wind fuhr über das Bergtal, und erlaubte es den Menschen für einen Moment, frischen Luft unter der drückenden Wärme zu holen. Altair fühlte die Freiheit mit jedem Schritt, den Shaitan sich mehr von der Burg entfernte. Der Assassine war jedesmal in Freude verfallen, wenn er nach Maysaf zurückkehren konnte, war es doch eigentlich seine Heimat, aber wenn er erst einmal dort angelangt war, drängte es ihn stets wieder hinaus in die Welt. Manchmal, wenn er nach einem spektakulären Auftrag des Kämpfens müde gewesen war, erträumte er sich Ruhe und Zeit für Zerstreuung im Reich der Assassinen, es stellte ihn jedoch stets nur in einen anderen Zustand des Ringens mit sich selbst und seiner Umgebung. Altair war ruhelos gewesen, umso mehr genoß er es, dass er nun keine Hast mehr verspürte. Seine Todeserfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Dinge ihren Lauf von ganz alleine nehmen würden, es bedurfte nicht seinem angestrengten Zutun um in Gang zu bringen, was lange schon beschlossen war.
Sie ließen den Pferden die Zügel und die Tiere trottet gelangweilt mit hängenden Köpfen vor sich hin. Selbst der sonst so ungestüme Shaitan zeigte keine Lust, sich in der ungewöhnlich brütenden Hitze schnell zu bewegen. Während sie die Stadt durchquerten, hielt sich Stille zwischen ihnen, doch als sie die letzten Häuser hinter sich ließen, begann Hassan zugleich zu sprechen.
"Also gut, mein Bruder, ich werde euch erzählen worum ihr mich gebeten habt, aber ich knüpfe eine Bedingung an dieses Versprechen!" Altair bedeutete ihm fortzufahren. "Vieles, was meine Meinung über Cihan und sein Wirken beeinflusst, ist Ergebnis von Beobachtungen, nicht von Wissen und ihr solltet euch darüber im Klaren sein, dass was ich über ihn zu berichten weiß stets von meiner Argwohn ihm gegenüber gefärbt ist. Al Mualim verbot allen, die schlecht über ihn sprachen, ihre Ansichten an euch heranzutragen und es wäre mir angenehm, wenn er nichts davon erfährt!" "Was ich wissen will, betrifft nicht die Angelegenheiten des Ordens. Wen interessiert es, wenn ein Junge nach seinem verstorbenen Vater fragt? Ich sehe keinen Grund, warum der Meister vom Inhalt unseres Gespräches Kenntniss erlangen sollte, er hat wichtigeres zu tun!" antwortete Altair gerissen. Hassan verzog seine Lippen zu einem schrägen Grinsen. "Das bringt uns schon direkt zum Anfang und stellt einen der Gründe dar, warum ich auf Cihan niemals Loblieder singen werde...ihr steht ihm in seiner Falschheit in nichts nach!" Wäre Altair noch sein Schüler gewesen, hätte Hassan seine Abneigung ihm gegenüber niemals so direkt gezeigt, doch ein Mann, der eine solche Stellung innegehalten hatte wie er, musste mit solchen Dingen umgehen können. "Er hat euch also belogen?" ignorierte der Assassine den Angriff. "Cihan hat jeden belogen, mit dem er zu tun hatte, selbst den Meister und nicht zuletzt eure Mutter! Wusstet ihr, dass Leiala und ich gewissermaßen miteinander vertraut waren? Ich war verantwortlich für ihren Schutz, wenn euer Vater sich nicht in Maysaf befand. Aus mir unbekannten Gründen fürchtete er ständig um sie und erteilte mir den Befehl, sie auf ihren Ausflügen in die Umgebung zu begleiten. Leiala war nicht glücklich in Maysaf und sie blieb nur aus einem einzigem Grund so lange hier: Cihan hatte ihr versprochen, seine Dienste für die Bruderschaft zu beenden, wenn ihr denn geboren würdet."
Dieser Aspekt der Vergangenheit war Altair neu. Bereits von vielen hatte er inzwischen in Erfahrung bringen können, welches Abkommen seine Eltern trafen, als sich ihre Wege trennten, dass sein Vater schon zuvor ein Versprechen gegeben hatte, schienen alle bisherigen Informanten unterschlagen zu haben.
"Aber er hat doch weiter Aufträge für den Meister erfüllt, auch als meine Schwester und ich längst am Leben waren!" Unter Einfluss der Erinnerung, derer er sich schon so lange nicht mehr bedient hatte, zog Hassan die Augen zu schmalen Tälern zusammen. "Ja, er hat sein Versprechen gebrochen. Glaubt mir, Leiala war außer sich! Sie griff mich sogar an, als sie davon erfuhr! Cihan hatte ihr erzählt, er würde für einige Geschäfte nach Damaskus reisen, in Wahrheit aber hatte er den Auftrag einen hochrangigen Politiker zu exekutieren. Sie entdeckte, dass er seine Waffen mitgenommen hatte und war rasend vor Wut. Ich habe alles versucht, um sie davon abzuhalten sofort zu verschwinden und hatte Erfolg. Als Cihan aber zurückkehrte, war er nicht bereit, sich ihren Fragen zu stellen. Sie drohte ihm damit, ihn zu verlassen, aber euer Vater ließ diese wunderbare Frau einfach gehen!" Hassan brach ab und hoffte, dass sein Gegenüber die letzten Worte überhört hatte, hatte jedoch kein Glück. Altair war zu aufmerksam gewesen um zu übersehen, was offensichtlich war. Aus seiner Stimme war nicht zu lesen, was er davon hielt, aber er reagierte oberflächlich beinahe zu kühl. "Ihr habt sie auch geliebt, habe ich recht?"
Der Kampflehrer entschied, dass es keinen Sinn hatte sich in Ausflüchte zu retten. "Ja, Altair, ich habe eure Mutter verehrt, mehr als jeder andere! Aber ich war es nicht, dem ihr Herz gehörte, also fügte ich mich ihrem Wunsch." "Was geschah, nachdem sie Maysaf verlassen hatte?" "Cihan und der Meister verfielen in Streit, das war an sich nichts ungewöhnliches. Diesmal jedoch blieb trotz ihrer neuerlichen Versöhnung ein Riss in ihrer Verbindung zurück. Euer Vater begann zu zweifeln, ob Al Mualims Weg wirklich der richtige sei. Er sprach mit jenen, die immer Anhänger der alten Strömung geblieben waren, auch wenn sie in ihren Taten den Weisungen ihres neuen Herrens Folge leisteten. Am Schluss, als unsere Wege sich zum letzen Mal kreuzten, behauptete er gar, Al Mualim wäre ein Verräter!" Altair gefiel nicht, was er da hörte, spürte jedoch, dass dies stimmiger zu sein schien, als alles, was er bisher gehört hatte.
"Als er gen Akkon ritt, um euch zu holen, verließen er und sein Schüler überstürzt die Festung, ohne den Meister davon in Kenntnis zu setzen. Al Mualim tobte, offensichtlich hatte er andere Befehle erteilt, schickte jedoch niemanden aus, um Cihan zurück zu holen. Nachträglich gesehen habe ich gar den Eindruck, dass er wusste, das euer Vater nicht zurückkehren würde." "Doch warum nahm er mich dann mir offenen Armen auf? Es kann kein Dienst der Freundschaft gewesen sein, dass er die Aufgaben meines Vaters übernahm und sich für meine Erziehung verantwortlich zeichnete!"
Inzwischen hatten sie die Grenzsteine Maysafs erreicht, Hassan trieb sein Pferd an einen von ihnen und begann mit der Spitze eines Messers das Moos aus den eingeritzten Zeichen zu entfernen. "Ihr seid die Chance zu einem neuen Anfang, Altair! Al Mualim lässt uns über seine Vorhaben im Dunklen, und er braucht jemand, der ihm bedingungslos folgt ohne Fragen zu stellen. Euer Vater ist an dieser Aufgabe gescheitert, weil Leiala ihn dazu brachte, sein Gehirn einzusetzen. Ihr aber werdet von keiner Liebe, keiner Emotion von dem abgelenkt, dass euch aufgetragen wird. In gewisser Weise, Altair," der Kampflehrer steckte das Messer weg, nahm die Zügel auf und wandte sein Tier in Richtung Maysafs um, "seid ihr der perfekte Krieger!"
Unter den Strahlen der sengenden Sonne blieb Altair allein zurück, als Hassan sich wieder auf den Weg machte. Er wusste nicht genau, was er von den Worten des anderen halten sollte, ob ihm die Taten seines Vaters gut oder wie die eines Verräters schienen. Cihan hatte Al Mualim misstraut, ein Gefühl, dass der Assassine durchaus teilte, aber die Ansicht, dass der Meister Böses im Schilde führe, konnte er nicht recht nachvollziehen. Letzlich war er der eine, der Altair von jeher dazu erzogen hatte, an den Kampf für den Frieden zu glauben, und an nichts sonst. In dieser Zeit, in der der Glauben an verschiedene Götter Blutzoll forderte, sprach Al Mualim weise davon, dass die Menschen ihr Schicksal selbst bestimmen konnten, dass es nur an ihnen lag, die Kämpfe zu beenden. Die Aufgabe der Assassinen war es laut ihm, jene zu beseitigen, die dies aus Gier nach Macht und Reichtum zu verhindern suchten und das war es auch, was Altair selbst als seine Berufung empfand.
Er beschloss, vorerst die Vergangenheit gut sein zu lassen und warf einen Blick auf den grenzenlosen Horizont der Wüste. In Akkon würde der Weg beginnen, der ihn erneut an die Spitze der Assassinen führen würde, wo einzig und allein nur der Glaube an den Frieden zählte.